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Die Kunst, gut Geschichten zu erzählen, Kritik der Literaturkritik und Krieg im 10. Jahrhindert - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 07.07. 2023) – Wer gut Geschichten erzählen kann, dem hört man zu. Denn Geschichten erzählen vom Leben und von Schicksalen anderer Menschen, kleiner und großer Menschen, von Kindern und Erwachsenen. Sie können glücklich machen, sie können traurig machen, sie können hoffnungsvoll machen, sie können aber auch zum Lachen anregen und zum Weinen. Kurzum: Geschichten können so bunt sein wie das Leben selbst. Und wenn sie gut erzählt sind, dann hört und liest man sie gern und mit Gewinn. Das gilt heute gleich für zwei der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote dieses Newsletters, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 07.07. 23 – Freitag, 14. 07. 23) zu haben sind. Hier können wir nachlesen, was gutes Erzählen ausmacht: Im Gegensatz zum Titel enthält „Der Sonderfall. Eine Geschichte mit gutem Ende“ von Jutta Schlott nicht nur eine, sondern vier Geschichten, die von Kinderschicksalen berichten, wie sie uns jederzeit im alltäglichen Leben begegnen können. Man kommt diesen Kindern nahe, möchte gerne mehr von ihnen erfahren und denkt über sie nach. „Sonntag unter Leuten“ lautet der Titel eines Bandes mit Erzählungen von Joachim Nowotny. Und dazu hören wir die Meinung des Autors: „Geschichten machen sich immer gut“, meint Joachim Nowotny, „sie sind passiert, und keiner kann gegen sie an.“

Zwei weitere Sonderangebote der heutigen Post aus Pinnow stammen von Wolfgang David. In „Hund unterm Tisch? Gedanken zur Literaturkritik“ tritt der Autor temperamentvoll, beredsam und entschieden dafür ein, mit der Kunst so umzugehen, dass „für uns das Beste dabei herauskommt“. Nicht wenige Rezensionen, so stellt er fest, seien noch weit davon entfernt.

„Brennaburg“ ist ein Historischer Roman desselben Autors: Herbst 928. Die Panzerreiter König Heinrichs I. überqueren die Elbe. Binnen weniger Monate besiegen sie die slawischen Heveller und deren Nachbarn. Als sie vier Jahre später sogar ein ungarisches Heer in die Flucht schlagen, scheint es, dass niemand ihnen widerstehen kann. Doch schon bald nach Heinrichs Tod gerät Otto, sein Sohn und Nachfolger, in größte Bedrängnis.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Der heutige Beitrag präsentiert eine fundierte politische Analyse, die weit zurückschaut, vor allem aber nach vorn schaut: Ist die Menschheit noch zu retten?

Soeben ist bei EDITION digital „Der Untergang einer alten Weltordnung. Rüstungskontrolle als Waffe in Kalten Kriegen“ von Lutz Vogt erschienen: Die alte Weltordnung, geprägt von den Ergebnissen des 2. Weltkrieges und des 1. Kalten Krieges und formuliert von den Siegern dieser Kriege, stirbt.

Neue Ordnungen haben schon immer in der Geschichte Zeit gebraucht, um zu wachsen, um irgendwann zu dominieren. Im Neuen wurden immer auch altbewährte Teile des Untergegangenen verwendet. Oft dauerte das mehr als nur eine Generation. Heute erleben wir den Wandel in der Welt sozusagen im Zeitraffer.

Ein zentraler Teil des Fundamentes der alten Ordnung war die Rüstungskontrolle der Atomwaffen. Seit sie in der Welt sind, hängt das Überleben aller davon ab, ob die wenigen, die über diese Waffen verfügen, sie auch einsetzen oder eben nicht.

Über fast ein halbes Jahrhundert wurden zentrale Teile der alten, vereinbarten Ordnung zwischen den Staaten errichtet. Seit drei Jahrzehnten wird sie Schritt für Schritt zerstört. Im Chaos aus Vereinbarungen und willkürlich erklärten Regeln entstehen die Umrisse einer neuen Welt aus der Asche der Alten.

Rüstungsbeschränkungen für Deutschland

Der 2+4-Vertrag beinhaltet gewichtige Vereinbarungen der Rüstungskontrolle in Form vom Rüstungsverboten für das vereinigte Deutschland. Die Bundesrepublik Deutschland verzichtet nach dem Beitritt der DDR im Artikel 3; Abs. 1 und in der Erklärung 3c. des Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher erneut und unwiderruflich auf die Herstellung, den Besitz und die Verfügungsgewalt über atomare, chemische und biologische Waffen. Sie bestätigte damit nochmals ausdrücklich die Gültigkeit entsprechender bestehender Verträge und Konventionen, deren Mitglieder die DDR und die alte BRD waren (Nichtweiterverbreitungsvertrag-NPT und die Konventionen über die Verbote und die Vernichtung chemischer und biologischer Waffen). Anders als im Nichtweiterverbreitungsvertrag ist der deutsche Verzicht auf Kernwaffen im 2+4-Vertrag jedoch nicht widerrufbar. Während im NPT ja ausdrücklich jeder Unterzeichnerstaat gemäß Artikel X Abs. 1. das Recht auf einen vertragskonformen Austritt hat. Analoges gilt für die B-Waffen-Konvention (Artikel XIII) und die C-Waffen-Konvention (Artikel XVI). Auf diese Austrittsrechte haben die beiden deutschen Staaten 1990 im 2+4-Vertrag ausdrücklich verzichtet. Ihre damaligen Regierungen betrachteten diesen vollständigen und endgültigen Verzicht auf atomare, chemische und biologische Massenvernichtungswaffen als einen notwendigen Preis für den Beitritt der DDR zur BRD.

Die 2+4-Staaten entsprachen mit diesem Artikel 3 auch den Festlegungen der Konferenz von Jalta vom 11. Februar 1945, des Potsdamer Abkommens vom 02. August 1945, der „Erklärung (der vier Siegermächte) in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands“ sowie der „Feststellung über das Kontrollverfahren in Deutschland“ (beide vom 5. Juli 1945). In Jalta hatten Stalin, Roosevelt und Churchill als ihr Kriegsziel festgestellt, „… dafür Sorge zu tragen, dass Deutschland nie wieder imstande ist, den Weltfrieden zu stören …“ (G. Schirmer, „Ein guter Pakt“; „Junge Welt“, 21.07.2015). Im Sinne dieser Festlegungen von Jalta und Potsdam erklärten die beiden deutschen Staaten im 2+4-Vertrag, bestätigt durch die vier Hauptsiegermächte des 2. Weltkriegs, dass das vereinigte Deutschland niemals über atomare, biologische und chemische Massenvernichtungswaffen verfügen wird.

Damit legten die Vier Mächte, die zugleich auch Ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat sind, fest, dass selbst dann, wenn das vereinigte Deutschland jemals auch Ständiges Sicherheitsratsmitglied werden sollte, dies nur als Mitglied zweiter Klasse möglich sein sollte. Die bisherigen 5 Ständigen Sicherheitsratsmitglieder sind zugleich auch die selbsterklärten „legalen“ Nuklearmächte. Dieser quasi als Geburtsrecht beanspruchte exklusive Status sollte auch mit dem 2+4-Vertrag vorsorglich abgesichert werden (siehe auch Michael Stürmer, „Die Welt“, 11.07.2017). Man weiß ja nie. Deutschland verfügte 1990 über alle wissenschaftlichen und technologischen Kenntnisse für den vollständigen Nuklearzyklus – zivil wie militärisch. Schon kleinere und wirtschaftlich weniger leistungsfähige Staaten wie Frankreich und Großbritannien (ganz zu schweigen von z.B. Israel, Pakistan oder der KVDR) hatten und haben Kernwaffen. Zumindest theoretisch könnten sich auch in Deutschland die politischen Interessen hinsichtlich des Kernwaffenbesitzes ändern. Dem wurde im 2+4-Vertrag wenigstens in einem völkerrechtlich bindenden Vertrag so gut es eben ging vorgebaut. In der DDR hatten Wissenschaftler wie Prof. Klaus Fuchs, Prof. Max Steenbeck und Prof. Manfred von Ardenne gelebt, die selbst an der Entwicklung sowjetischer und US-amerikanischer Kernwaffen in Schlüsselfunktionen mitgearbeitet hatten. Mit dem Uranbergbaubetrieb „Wismut“ erbte das vereinigte Deutschland eine jahrzehntelange Quelle der UdSSR für Uran einschließlich modernster Abbautechnologien in den Ende der 1980er Jahren neu erschlossenen Uranminen (siehe auch: A. Fenenko: „20 Jahre Einheit: Deutschland weiter ohne Friedensvertrag“; RIA Novosti, 04.10.2010). In der alten BRD gab es mehrere High-Tech-Konzerne, die sowohl Kernkraftwerke bauen als auch betreiben konnten. Auch die Technologie der atomaren Wiederaufarbeitung und Anreicherung war großen Unternehmen in Produktion und Betrieb bekannt.

Die vier Hauptalliierten im Kampf gegen Hitlerdeutschland und die Regierungen der beiden deutschen Staaten vereinbarten als weiteren wesentlichen Punkt der Rüstungskontrolle im 2+4-Vertrag unter anderem auch den entnuklearisierten Status der deutschen Gebiete, die bis zum 3. Oktober 1991 die DDR bildeten. Gemäß Art. 5, Abs. 3 dürfen auf dem ehemaligen Territorium der DDR keine NATO-Truppen mit Kernwaffen stationiert werden. Zumindest rechtlich befinden sich die Menschen im Osten der Bundesrepublik Deutschland in einer Art privilegierter Position. Die Bundeswehr darf dort dual verwendungsfähige Waffensysteme nur in ihrer konventionellen Rolle stationieren (z.B. Flugzeuge vom Typ „Tornado“). Dieser Punkt war auch unter den seinerzeit Verantwortlichen in der Bundesrepublik als wesentlich für den Weg zur deutschen Einheit gesehen worden. Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl und der Staatssekretär im BMVg, Willy Wimmer, hatten sich hierzu bereits frühzeitig verständigt (W. Wimmer; „Die Akte Moskau“; Denkschrift vom 20.12.1989; S 299 ff; S. 160-161). Angesichts der geringen taktischen „Tiefe“ des ehemaligen DDR-Territoriums war dieser Punkt des 2+4-Vertrages allerdings eher ein Feigenblatt zur Erlangung der Zustimmung zum Vertrag im damals noch existierenden Obersten Sowjet und im ZK der KPdSU. Kontrollmechanismen für Artikel 5, Absatz 3 wurden ohnehin nicht vorgesehen.

Nach dem erneuten und bedingungslosen Verzicht Deutschlands auf Entwicklung, Herstellung, Besitz oder Verfügung auf Atomwaffen mussten die Vier Mächte nur noch all jene politischen Kräfte unterstützen und fördern, die so viel wie möglich vom schon bestehenden wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Nuklearkomplex in Deutschland abschaffen wollten. Die Ergebnisse sind bekannt.

Ein Land, das über keinen eigenen Nuklearkomplex von der Urangewinnung über dessen Verarbeitung und Nutzung zur Energieerzeugung bis zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoff verfügt, ist wissenschaftlich, wirtschaftlich, militärisch und letztlich politisch drittrangig. Ganz gleich, wie sich die Eliten solcher Länder selbst gerne sehen. Dies gilt umso mehr für die weitere Zukunft.

Das Buch „Der Sonderfall. Eine Geschichte mit gutem Ende“ von Jutta Schlott erschien erstmals 1981 in Der Kinderbuchverlag Berlin. Die vier Geschichten in diesem Buch berichten von Kinderschicksalen, wie sie uns jederzeit im alltäglichen Leben begegnen können: Markus’ Mutter heiratet zum zweiten Mal; Edgars Großvater stirbt; Brunhilde muss sich um Geschwister und Haushalt kümmern; Siegfried schafft das Schulpensum nicht. Dies sind die Anlässe der Schwierigkeiten, die sich für die Kinder ergeben. Nichts Ungewöhnliches also! Und dennoch sind es ungewöhnliche Geschichten von eigenartigem Reiz, spannend und anrührend. Man kommt diesen Kindern nahe, möchte gerne mehr von ihnen erfahren - denkt über sie nach. Ihr Schicksal erweckt unsere Anteilnahme.

Hier ein Auszug:

Am nächsten Morgen erwartete die Mutter ihn wie üblich am Frühstückstisch. Der Vater war schon zur Arbeit in den Kuhstall gefahren.Die Mutter saß auf ihrem Platz, dem gepolsterten Hocker am Tischende. Sie rief Siegfried zu sich und nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. „Siegfried, die Lehrerin hat gesagt, dass du vielleicht nicht versetzt wirst. Weil du noch nicht richtig lesen und schreiben kannst ... Dann musst du im Herbst noch einmal in die erste Klasse. Das willst du doch nicht, Siegfried! Nicht wahr?!“

Siegfried schüttelte erwartungsgemäß den Kopf. Es war ihm aber anzusehen, dass er nicht recht wusste, warum er sich vor dieser Wiederholung fürchten sollte.

Die Mutter sprach eindringlich auf ihn ein: „Damit du nicht sitzen bleibst, müssen wir jetzt wieder jeden Tag ganz fleißig üben. Ja?!“

Siegfried nickte und fragte: „Wo soll ich nicht sitzen?“

„Ach, Siegfried, ich glaube, du begreifst das alles gar nicht.“

Siegfried nickte wieder und wollte sich setzen.

Die Mutter winkte ihn mit einer Kopfbewegung noch einmal zu sich. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. „In der übernächsten Woche müssen wir beide in die Stadt fahren. Drei Tage lang. Du sollst wieder untersucht werden.“

Siegfried sah sie erwartungsvoll an. Er fuhr gern in die Stadt.

Die Mutter gab ihm einen leichten, zärtlichen Klaps auf den Rücken. „Jetzt frühstückst du erst mal.“

Sie reichte ihm die Butter, die Marmelade zu, schenkte ihm Milch ein. Sie behandelte ihn, als ob er krank sei, und ließ, während er aß, ihren fürsorglichen und beunruhigten Blick nicht von ihm.

Nach dem Frühstück setzten sie sich zum Üben wieder an den Wohnzimmertisch. Nach dem Mittagessen, nachdem sie abgewaschen und Siegfried abgetrocknet hatte — das hatte er zu erledigen, seit die Schwester in der Stadt lernte —, legte sich die Mutter für ein Stündchen, wie sie sagte, auf das Sofa. Siegfried durfte mit dem Schlitten nach draußen.

Zum Kaffeetrinken rief sie ihn, und danach musste er wieder Bücher und Hefte auspacken.

So verlief ein Ferientag nach dem anderen.

„Sei schön fleißig, pass schön auf“, ermahnte ihn die Mutter oft. „Sonst schimpfen sie mit dir bei der Untersuchung.“

Das Buch „Sonntag unter Leuten“ von Joachim Nowotny erschien erstmals 1971 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig. Weshalb schreibt Nowotny Geschichten? „Wir wollen, dass unser Jemand die Sache genau so sieht, wie wir sie sehen. Dass er sie so riecht und schmeckt und fühlt, dass sich seine Haltung dazu von der Unsrigen nicht unterscheidet. Und in dem Augenblick, in dem wir begreifen, dass unsere geläufige Sprache diese Übereinstimmung nicht herzustellen imstande ist, beginnen wir zu erzählen. Wir erzählen eine Geschichte. Die Geschichte, in der die Sache verborgen ist, aber nicht endgültig, sondern dergestalt, dass sie beim Erzählen zutage tritt. Verstehe, sagt plötzlich unser Jemand. Genau das ist es, was diese Erzählungen heraushebt. Sie kommen einem nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Was der Dichter sagen will, steckt in den Geschichten drin. Und was für Geschichten!“ Bekommt da etwa der ehemalige zweite Bäcker Herr Rademann vom Arzt Arbeit an frischer Luft verschrieben und wird beim Bau einer Betonstraße eingesetzt. Ausgerechnet da streikt die so dringend benötigte Planierraupe, und es muss mit der Handdampframme weitergearbeitet werden. Bregula, Jule Bucht und Jauernicks Leo wollen sich einen Spaß machen, wohl auch ihren Ärger über die defekte Planierraupe auslassen und stellen den ehemaligen zweiten Bäcker an die Ramme, und diese zieht mit Herrn Rademann durch die Lausitzer Landschaft wie das Pferd mit dem kutscherlosen Wagen. Da wird der Leser ebenso lachen wie Jule Bucht und Jauernicks Leo. Aber Herr Rademann lernt das Untier, die „Tonne“, beherrschen und setzt sie schließlich so genau auf Jule Buchts Stiefelsohlenspitze, dass dem das Lachen im Halse stecken bleibt. „Geschichten machen sich immer gut“, meint Joachim Nowotny, „sie sind passiert, und keiner kann gegen sie an.“ Und hier ein Auszug aus einer Geschichte:

Und wir bauten uns eine Sprungschanze ziemlich am Ende des Berges, die tauften wir dann Todesschanze. Als wir sie mit viel Geschrei eingeweiht hatten, merkten wir, dass sie nicht so hoch war. Der dicke Goy aber, der traute sich nicht. Leute, sagte er, wenn ich da drüber donnere, ich mit meinem Gewicht, ich flieg gleich bis Bautzen! Das war natürlich eine Ausrede, eine von der schlimmsten Sorte, hinter ihr wollte der dicke Goy seine Angst verstecken und doch gleichzeitig sagen: Guckt bloß mal an, was ich eigentlich für ein Kerl bin! Wir fielen freilich nicht drauf rein, sondern setzten dem Feigling ganz schön zu, wir verhöhnten ihn und versuchten es auch im Guten, schließlich schrien wir alle auf ihn los: Angsthase, Pfeffernase! und noch allerhand andere Sachen, die ich nicht wiederholen möchte. Der Goy jedenfalls bekam Wut, er schmiss die Stecken hin, packte sich den nächsten besten und warf ihn den Berg hinunter, dem zweiten gab er einen Stoß, dass er wie ein geölter Blitz ins winterstarre Dickicht schoss, dem dritten trat er auf die Skispitzen, dass es gleich knackte, auch mich wollte er packen und wegschleudern, aber ich kam ihm zuvor. Lass doch, sagte ich mit ganz normaler Stimme, ich verstehe dich ja. Da ließ er mich tatsächlich sein und starrte mich ungläubig an. Während die anderen mit sich selber zu tun hatten, Bindungen flickten, Beulen betasteten und Fäuste schwangen, redete ich auf den dicken Goy ein, als hätte ich einen störrischen Ziegenbock vor mir, der absolut nicht laufen will.

Sieh mal, sagte ich, das ist nun nicht jedermanns Sache, so ein Schanzenflug, da brauchst du dich nicht zu schämen, der eine macht das und der andere etwas anderes. Du springst vielleicht vom Zehnmeterturm in der Badeanstalt, und wenn nicht, dann ist das auch nicht schlimm, dann stemmst du vielleicht drei Zentner mit der linken Hand. Zu solchen Sachen wie Ski- und Turmspringen gehört nun einmal Mut, wer den nicht hat, der kann nichts dafür, der lässt das eben bleiben und geht hübsch beiseite, damit die anderen Platz haben, fertig. Aufregen würde ich mich jedenfalls an deiner Stelle nicht, da zeigst du ja bloß deinen Ärger darüber, dass du keinen Mut hast. Aber Mut ist schließlich nicht die Hauptsache, wenn einer Muskeln hat wie Eisen und mit einem Schlag zwei Vierzöller ins Holz treiben kann, was braucht er eigentlich Mut?

So und nicht anders habe ich auf den dicken Goy eingeredet, immer wieder und wieder, er hat freilich erst mit den Augen gerollt, dann aber doch wohl zugehört, vor allem, wenn das Wort Mut fiel. Und plötzlich hat er mich doch noch mit dem linken Ellenbogen zur Seite geschleudert, hat gebrüllt: Was denn, ich soll keinen Mut haben?, hat seine Skistöcke aufgerafft und Anlauf genommen. Es donnerte wie ein D-Zug, als er über die Piste ging, es zischte wie Wasser und Feuer, als er sich in die Lüfte erhob und sprang.

Bis Bautzen ist er freilich nicht ganz gekommen, aber der Hochspannungsmast da unten im Auslauf konnte sich gratulieren, dass er nicht gerade in Flugrichtung stand, denn sonst hätte er heut mindestens einen ordentlichen Knick.

Das Buch „Hund unterm Tisch? Gedanken zur Literaturkritik“ von Wolfgang David erschien erstmals 1985 im Mitteldeutschen Verlag Halle Leipzig. Wolfgang David, belesen und erfahren in der verständlichen Darlegung komplizierter ästhetischer Fragen, tritt in diesem Essay temperamentvoll, beredsam und entschieden dafür ein, mit der Kunst so umzugehen, dass „für uns das Beste dabei herauskommt“. Nicht wenige Rezensionen, so stellt er fest, sind noch weit davon entfernt. Das ärgert und veranlasst ihn zu analytischer Kritik von Kritiken in Tageszeitungen und Fachzeitschriften sowie zur Suche nach den Ursachen unangemessener Wertungen. Adressaten seines Essays sind alle, die sich mit Literatur beschäftigen - ob als Rezensent, Nachwortschreiber, Interviewer oder Interviewter, ob als Teilnehmer von Lesungen, wo man seine Meinung äußert, zurückhält oder verleugnet - und denen die Folgen ihrer Äußerungen nicht gleichgültig sind:

In einer Tageszeitung werden Beobachtungen auf einer Kunstausstellung mitgeteilt. Der Text ist mit einigen Repros dort gezeigter Werke versetzt, die wiederum werden kurz kommentiert. Unter dem Porträt eines älteren Mannes lese ich: „Mit dem ‚Bildnis Hellmuth Heinz‘ würdigt der Dresdner Maler Erich Gerlach das Wirken des langjährigen Direktors vom Freitaler Heimatmuseum. In der aufrechten Haltung, dem offenen Gesicht mit den fest auf den Betrachter gerichteten Augen vermag der Künstler wichtige Charaktereigenschaften seines Gegenübers bildhaft zu machen.“

Darüber die fotografische Wiedergabe einer Plastik, daneben die eines Gemäldes; hierzu folgende Bemerkung: „Ihrem schlanken, weich modellierten Bronzeporträt ‚Sabine‘ verlieh die Bildhauerin Margret Middell einen Ausdruck von Würde und jugendlicher Schönheit. – Im Arbeitsalltag eines Konfektionsbetriebes fand der Berliner Maler Harald Metzkes das Motiv für das Gemälde ‚Näherinnen‘. Auch durch die warme tonige Farbigkeit vermag der Künstler viel von der Atmosphäre in der Produktionshalle, vom menschlichen Arbeitsklima sichtbar zu machen.“

Ich weiß, ich sollte mich längst daran gewöhnt haben, dass es nicht immer so sein muss – doch wenn ich etwas lese, gehe ich von der Annahme aus, dass es einen einleuchtenden Grund gibt, warum es geschrieben worden ist. Falls ich ihn nicht auf Anhieb finde, kapituliere ich nicht gleich, sondern bewege mich bis zu jenem Punkt zurück, da ich dem Verfasser noch zu folgen vermochte; anschließend laufe ich die gleiche Strecke noch mal ab, nun aber mit kleineren Schritten.

Ich sehe mir also das Bild jenes älteren Herrn an und überlege, welche Funktion der dazugehörige Kommentar haben mag. Der Maler wollte die gewiss erfolgreiche Tätigkeit dieses Mannes würdigen – hm. Vielleicht, vielleicht auch nicht, man müsste den Maler fragen, doch wozu? Meine Haltung zu dem Werk würde sich durch eine solche Nachricht kaum verändern. Der Porträtierte sitzt aufrecht, schaut dem Betrachter entgegen, sieht nicht verschlossen aus (stimmt alles, sehe ich aber selber), und aus alldem folgt, dass er über „wichtige“ (wahrscheinlich entsprechend positive) Eigenschaften verfügt. Nun, wohl nicht unbedingt. Der Zusammenhang zwischen Psyche und Physiognomie ist bekanntlich – leider – komplizierter. Was bewiese übrigens ein Bild, das einen gekrümmt sitzenden, verschlossen und am Betrachter vorbei blickenden Menschen zeigte? Doch nehmen wir an, alles verhält sich so, wie der Text behauptet. Dann erhebt sich die Frage, zu welchem Zweck mir das mitgeteilt wird. Ich habe darauf keine Antwort. Von der Information, dass dem bildenden Künstler Erich Gerlach ein mutmaßlich tüchtiger und sympathischer Mann Modell gestanden hat, vermag ich im Hinblick auf das Werk keinerlei Gebrauch zu machen.

Ähnlich geht es mir mit der Bemerkung zu der Plastik. Ihr Sinn ist mir unbegreiflich, enthält sie doch nur das, was ich ohnehin sehe. Und selbst wenn ich der – etwas gewagten – Schlussfolgerung zustimmen würde, dass mittels einer bestimmten Farbigkeit die Qualität des Arbeitsklimas in dieser Produktionshalle sichtbar gemacht werden könne, so verstehe ich noch lange nicht, was ich mit ihr anfangen soll. Ich verstehe das ebenso wenig, wie ich es verstünde, wenn mir jemand in Bezug auf ein Stillleben erklären würde, dass es den leckeren Geschmack des darauf abgebildeten Fisches oder die reife Süße der ihn umkränzenden Weintrauben „sichtbar“ mache. Es mag ja so sein, doch mit welcher Absicht und zu welchem Nutzen wird ausgerechnet das hervorgehoben?

Oder: Ein (ansonsten sehr instruktiver) Artikel anlässlich des 500. Geburtsjubiläums Raffaels trägt die Überschrift: „Die Würde und Schönheit des Menschen bleibend gestaltet.“ Des Menschen – ist jeder Mensch schön, besitzt jeder in gleichem Maße Würde, sind diese Eigenschaften demnach Gattungsmerkmale? Wäre es so, dann besäße der zitierte Ausdruck ungefähr den gleichen semantischen Gehalt wie der folgende: „Den Menschen als aufrecht gehenden Zweibeiner bleibend gestaltet“, er wäre also ziemlich leer.

Aber es ist ja nicht so. Es gibt schöne und hässliche, würdevolle und würdelose Individuen, von beiden nicht zu knapp, dazwischen noch alle denkbaren Schattierungen und Varianten. Die Ellipse ist damit nicht nur nichtssagend, sondern falsch. Doch einerlei, ob so oder so, eines bleibt ohnehin im Dunkeln: Was bedeutet es eigentlich, vom Werk Raffaels zu sagen, dass er vorzugsweise oder ausschließlich ansehnliche und ihre natürlichen Bedürfnisse beherrschende Menschen gemalt hat? Oder verstünde sich das von selbst?

Mir ist, als höre und lese ich dergleichen fortwährend und seit einer Ewigkeit, präziser: seit meiner Schulzeit. Der Künstler stellt dieses oder jenes dar, will dieses oder jenes sagen. Dieses oder jenes – das ist entweder etwas, dem man in der Realität mit zustimmenden Empfindungen begegnet oder begegnen sollte, oder es ist etwas gleichermaßen Großartiges wie Abstraktes, nicht selten beides in einem. Frühzeitig begriffen wir, dass solche Formeln lobend gemeint waren, und erlangten bald Übung darin, selber welche zu erzeugen. So wusste ich, auch wenn es mir nicht ausdrücklich gesagt wurde, dass das Antlitz eines Renaissance-Kaufmannes nicht bloß interessant anzusehen oder gut gemalt war, sondern das Selbstbewusstsein des aufstrebenden Bürgertums widerzuspiegeln hatte. Ich wusste das, verstand es aber eigentlich nicht und schämte mich dessen ein bisschen. Ich gab daher nicht zu, dass mir dies einmal sehr weit hergeholt zu sein schien, zum anderen mein Gefallen an dem Bild in keiner Weise betraf. Das aufstrebende Bürgertum ließ mich jedenfalls ziemlich kalt, was mir lange Zeit Schuldgefühle bereitete. Später mühte ich mich nicht mehr ab, etwas zu sehen, das ich beim besten Willen nicht sah, und etwas gut oder schlecht zu finden, von dem mir rätselhaft war, wie es an sich überhaupt gut oder schlecht sein konnte. Wenn ich derartiges las, empfand ich zwar Unbehagen, ging aber dessen Ursache nicht weiter nach: vielleicht aus Furcht vor jenem Gefühl der Unzulänglichkeit, das mir in der Schule zu schaffen gemacht hatte.

Das Buch „Brennaburg“ von Wolfgang David erschien erstmals 1991 im Verlag Neues Leben Berlin.

Herbst 928. Die Panzerreiter König Heinrichs I. überqueren die Elbe. Binnen weniger Monate besiegen sie die slawischen Heveller und deren Nachbarn. Als sie vier Jahre später sogar ein ungarisches Heer in die Flucht schlagen, scheint es, dass niemand ihnen widerstehen kann. Doch schon bald nach Heinrichs Tod gerät Otto, sein Sohn und Nachfolger, in größte Bedrängnis. Dieser fundierte historische Roman lässt die Regierungszeit Heinrichs I. und Ottos des Großen lebendig werden. Er schildert auch ein politisches Massaker, das zu den folgenschwersten des europäischen Mittelalters zählt.

Hier eine kleine Leseprobe aus dem umfangreichen Roman:

DORT, WO DIE Werkstatt der Töpfer an die der Weber grenzte, legte eine Magd jeden Morgen einen Stapel Felle ab, der einem Einbeinigen als Sitzplatz diente. Die Hofleute nannten ihn Walter und nahmen ihn gern für Arbeiten in Anspruch, welche die Handwerker nicht in der jeweils gewünschten Frist erledigen konnten. Dafür bekam er, was er zum Leben benötigte. Meist war er bereits gegen Mittag von Krügen, Schüsseln und Körben umstellt, für alle ein Zeichen, dass er bis auf weiteres genügend Aufträge hatte. Da er ständig schmunzelte und vor sich hinsprach, hielt ihn Otto für geistesschwach.

Einmal beobachtete er, wie Walter den Stamm einer jungen Esche spaltete, indem er der Länge nach einen Keil hineintrieb. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, stützte er sich dabei auf eine Krücke, die er unter die linke Achselhöhle geklemmt hatte. Von Mitleid erfasst, wollte ihm Otto helfen, denn ihm schien, dass diese Arbeit für den Krüppel eine furchtbare Quälerei bedeutete.

Als er näher trat, spuckte der Mann plötzlich aus und sagte mit einer eigentümlich hellen Stimme: „Da schwitze ich nun über diesem Drecksding, und es macht mir auch noch Spaß. Ist das nicht verrückt?“

Otto traute seinen Ohren nicht. Dass ihn ein Knecht auf diese Weise ansprach, war zu ungewöhnlich. Aber noch während er mit seiner Verblüffung rang, hörte er sich antworten: „Es sieht aus, als sollte es ein Bogen werden. Warum sagst du Drecksding dazu?“

„Weil es eins ist“, erwiderte der andere trocken. Er fuhr mit den Fingerspitzen über die eine Schnittstelle des Stämmchens und murmelte: „Prachtvolles Holz. Schön fest. Faser ganz gerade. Auf der Nordseite gewachsen, im Schatten. Ein Drecksding ist es trotzdem.“

„Aha“, machte Otto. Er hatte richtig vermutet, der Mann war offenbar nicht bei Verstand. Es gab nichts mehr zu sagen, dennoch zögerte er weiterzugehen.

In diesem Moment ließ der andere von seiner Arbeit ab, setzte sich und klopfte neben sich auf den Fellhaufen. „Nun komm schon. Dir zittern ja die Knie.“

Widerspruchslos folgte Otto der Aufforderung. Es war genau das, wonach ihn jetzt verlangte: In der Sonne sitzen und mit jemandem reden, selbst, wenn es sich bei diesem Jemand um einen harmlosen Irren handelte.

„Möchtest du einen Schluck trinken?“ Walter wies auf die Krüge um sich herum. „Bier, Most, Milch, du kannst haben, was du willst. Nur Wein fehlt. Den könnten sie mir auch mal wieder spendieren.“

Otto verneinte. Um nicht unhöflich zu wirken, fragte er in einem verbindlichen Ton: „Warst du auch mit im Krieg? Ich entsinne mich nicht, dich gesehen zu haben.“

„Heißt das etwa, du würdest alle wiedererkennen, die mit waren?“, fragte der Mann, ihn neugierig musternd, zurück.

„Nein, wohl kaum“, entgegnete Otto, ein bisschen befremdet, dass seine leutselige Bemerkung so nüchtern aufgenommen wurde.

Der andere lachte geringschätzig, so, als habe er diese Antwort erwartet. „Ich war im Krieg, aber nicht in dem, den du meinst, junger Herr. Ich kämpfte vor einigen Jahren an der Seite deines Vaters in Lothringen.“

Otto errötete. Dieser Walter wusste demnach, wen er vor sich hatte. Umso verwunderlicher war, wie ungezwungen er sich benahm … Statt sich jedoch darüber zu ärgern, überkam ihn erneut das Bedürfnis, dem anderen etwas Angenehmes zu sagen: „In Lothringen also. Ja, ich erinnere mich, obschon ich damals ein Kind war. Aber ich weiß noch sehr gut, wie alle von diesem Krieg geredet haben.“

„Wie denn?“

„Nun, dass er ein Erfolg gewesen war.“

Im Mittelpunkt der heutigen Post aus Pinnow stand die Kunst, gut zu erzählen und mit den Schicksalen zunächst fremder Menschen bekanntzumachen, die einem auf diese Weise näherkommen. Und man beginnt, ihr Handeln und ihre Beweggründe für ihr Handeln zu verstehen und man beginnt, mit ihnen mitzufühlen.

Das gilt nicht nur für Geschichten aus der Gegenwart, sondern auch für solche, die in aus heutiger Sicht in weit zurückliegenden Zeiten wie zum Beispiel dem 10. Jahrhundert spielen. Tragisch ist, dass es oft Geschichten von Kriegen sind und keine Geschichten vom Frieden.

Umso wichtiger scheint es daher, nach den äußeren Anlässen und nach den tieferen, oft ebenfalls weit in die Vergangenheit zurückreichenden Ursachen für Kriege und nach den Mechanismen des Friedens zu suchen. Wie kommt der Frieden in die Welt? Und vielleicht können wir uns dann eines Tages auch an mehr Friedensgeschichten erfreuen.

Viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen Sommer, bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst. Dann lernen wir unter anderen Tina kennen, Tina, die das Meer entdeckt.

EDITION digital: Newsletter 07.07.2023 - Die Kunst, gut Geschichten zu erzählen, Kritik der Literaturkritik und