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Als sie am nächsten Tag die Bungalowtür öffnete, ging sie davon aus, dass vielleicht wieder eine Ratte auf ihrer Matte liegen könnte. Sie hatte sich darauf eingestellt und fühlte sich innerlich gewappnet. Aber heute Morgen lag nichts auf der Türmatte. Sie trat auf die Terrasse hinaus und genoss den Blick auf den See, der zu dampfen schien. Nebel stieg von der Oberfläche des Wassers auf. Die Luft ist ziemlich kalt heute morgen, kälter als das Wasser des Sees. Sie frühstückte in aller Ruhe und entschloss sich dann, nach der Außenleuchte zu sehen, die in der letzten Nacht ausgefallen war. Zu ihrer Überraschung lag der Glaszylinder abgeschraubt am Boden, die Glühbirne daneben. Als sie sich verdeutlichte, was dies bedeutete, erschrak sie geradezu. Es lief ihr kalt den Rücken herunter: Also muss letzte Nacht doch jemand auf dem Grundstück gewesen sein! Die Lampe war nicht kaputt. Es gab keinen Wackelkontakt. Sie schraubte die Glühbirne in die Fassung und brachte auch den Zylinder wieder an. Dann entschloss sie sich, ein wenig Laub zu harken und sich körperlich zu betätigen, um sich zu beruhigen. Die vom Herbstwind verwehten Blätter lagen überall auf dem Grundstück. Aus dem Schuppen, der sich hinter dem Bungalow befand, wollte sie sich eine Harke holen. Als sie um die Hausecke bog, blieb sie mit offenem Mund stehen. Unter dem kleinen Kirschbaum neben dem Schuppen lag der Kopf eines toten Tieres – eines Waschbären! Sie trat näher heran. Das Laub unter dem Baum war blutgetränkt. Ob das der ist, den ich letzte Nacht gehört habe? Vielleicht ist er über den Stamm und die Äste aufs Dach geklettert? Ein nächtlicher Kampf unter Tieren? Dann sah sie, dass der Kopf geradezu säuberlich abgetrennt worden war , offensichtlich durch einen einzigen Schnitt. Der ist regelrecht geköpft worden. Das war kein tierischer Kampf. Der Tierkopf war um das Maul herum blutverschmiert und erinnerte Pia nicht – wie sonst bei lebenden Bären dieser Art – an die Putzigkeit eines Teddybären. Mit seinen halb geschlossenen Augen und dem gebrochenen Blick schien er sie wie ein heidnischer Götze geradewegs anzusehen.
Ein grausiger Anblick! Wer mag das getan haben. Der Nachbar hinter mir, Herr Müller? Hat er das Tier getötet und über den Zaun geworfen? Nein, die Müllers haben ihren Bungalow doch schon lange winterfest gemacht. Da wohnt niemand mehr. Also ist es eindeutig: Der tote Bär ist – neben der herausgeschraubten Glühbirne – ein weiterer Beweis dafür, dass letzte Nacht mit Sicherheit jemand auf meinem Grundstück gewesen sein muss. Ich habe mich also nicht getäuscht, als ich im Bett lag! Wer mag das gewesen sein? Ihr fielen dazu wiederum nur Ahlbrock oder Paskert ein. An den großen Unbekannten mochte sie nicht einmal denken. Pia suchte das gesamte hintere Grundstück ab. Unter dem Jasminstrauch in der Nähe des Kirschbaums fand sie den Rumpf des Waschbären.
Jetzt fühlte sie sich plötzlich nicht mehr sicher in ihrem Bungalow. Langsam wird es mir hier zu unheimlich! Sollte ich die Polizei rufen? Wegen eines toten Waschbären? Und die beiden beschuldigen? Nein … das sind alles doch nur Vermutungen. Mit solchen Beschuldigungen würde ich mich nur lächerlich machen. Und eine Anzeige gegen Unbekannt? Bringt überhaupt nichts! Jetzt muss ich erst mal zu Frau Brückner, damit sie sich das Massaker auch mal anguckt. Vielleicht kann sie mir sagen, wer dahinter stecken könnte, oder einen Rat geben. Die Sache mit den Ratten, das ging ja noch, darauf wollte ich sie gar nicht ansprechen. Aber das jetzt … das ist schon etwas anderes. Sie schoss mit ihrem Smartphone mehrere Fotos von dem Waschbären und dessen abgetrennten Körperteilen. Dann machte sie sich auf den Weg, fand den Bungalow von Frau Brückner aber völlig verlassen vor. Die Haustür war verschlossen. Merkwürdig, Frau Brückner ist um diese Zeit normalerweise immer zu Hause. Da stimmt doch etwas nicht! Pia kehrte zu ihrem Grundstück zurück, lud den toten Waschbären auf eine Schubkarre und vergrub den Kadaver im Kiefernwald. Anschließend fuhr sie ins Dorf, kaufte beim Bäcker zwei Stücke Kuchen und erkundigte sich nach Frau Brückner. Die allwissende Frau Neuhaus wusste selbstverständlich Bescheid. „Ach, die Ärmste. Sie hat doch ein so schwaches Herz! Gestern Nachmittag hatte sie einen Herzanfall. Man hat sie mit dem Krankenwagen vorsorglich ins Klinikum gebracht. Sie war noch bei Bewusstsein, hat selbst den Rettungsdienst gerufen.“ Die Nachricht vom Abtransport ihrer Nachbarin machte Pia betroffen. Dies verbarg sie jedoch vor Frau Neuhaus, deren Neigungen sie langsam zu durchschauen begann. Sie war wie vor den Kopf geschlagen , kehrte niedergedrückt ins Gartenhaus zurück.
Nun bin ich ganz allein in der Siedlung. Und nachts bewegen sich Unbekannte auf meinem Grundstück, die mir tote Tiere hinterlassen! Wobei ich offenbar so gut wie nichts dagegen tun kann … Wer will mir Angst machen, und warum? Ich bekomme immer mehr das Gefühl, hier vogelfrei und beliebigen Angriffen schutzlos ausgesetzt zu sein. Deshalb sollte ich so bald wie möglich zurück nach Hamburg fahren! Weiterhin abzuwarten, was als Nächstes passiert, bringt nichts. Ich darf nicht passiv bleiben, langsam muss ich etwas tun … Sie haderte mit sich selbst: Einerseits sah sie sich als selbstbewusste junge Frau, die sich durch nichts einschüchtern ließ – erst recht nicht von Männern. Es gehörte zu dem Bild, das sie von sich selbst hatte, bei Schwierigkeiten nicht ängstlich die Flucht zu ergreifen oder sich zurückzuziehen. Andererseits fühlte sie sich jetzt ernsthaft bedroht. Sie versuchte erst gar nicht mehr, sich weiszumachen, dass sie keine Angst hatte.
Flüchten oder standhalten – das ist hier die Frage …, dachte sie mit bitterer Ironie. Flüchten ist wohl im Moment das Klügste. Aber dann fiel ihr die Verabredung mit Linus Swan ein. Die will ich auf jeden Fall noch wahrnehmen! Mal sehen, was sich daraus ergibt. Linus ist nicht nur ein interessanter Mann, er ist auch intelligent … Möglicherweise kann er mir weiterhelfen. Vielleicht sollte ich nicht einfach weglaufen, als wäre ich ein kleines Mädchen, das verschreckt ist. Wie auch immer, ich bleibe auf jeden Fall bis morgen hier! Dann telefoniere ich erst einmal mit Linus … Hm, ich könnte ja auch in Erwägung ziehen, mir in den nächsten Tagen eine Studentenwohnung in Greifswald zu nehmen, mal sehen. Aber heute Nacht muss ich mich schützen. Außer mir wohnt niemand mehr hier draußen …
Sie fühlte sich auf einmal sehr verlassen und hilflos in der kleinen abgelegenen Siedlung, selbst am helllichten Tag, konnte der Situation aber so schnell nicht entrinnen. Ich darf mich nicht unterkriegen lassen. Am besten versuche ich, die trostlose Siedlung und die dörfliche Enge für ein paar Stunden hinter mir zu lassen.
Und so entschloss sich Pia, in die Stadt zu fahren. Sie wollte in Neubrandenburg ein wenig bummeln gehen und sich nach Kleidung für den Herbst umsehen. Nach über einer halben Stunde Fahrt hatte sie die Stadt erreicht. Der Trubel in den dortigen Einkaufszentren brachte sie rasch wieder auf andere Gedanken. Die bedrohlichen Gespenster, die ihr Gemüt belastet hatten, verflüchtigten sich. Sie kaufte sich eine Jacke, passend zum Herbst, und ein paar neue Schuhe. Dann setzte sie sich noch eine Weile in ein Café und beobachtete das geschäftige Treiben der Leute mit großem Vergnügen. Anschließend kehrte sie nach Schönfeld zurück. Mit den Einkaufstaschen in den Händen kam sie am Bungalow an. Das Zauntor war unverschlossen, wie immer. Sie schloss die Tür des Gartenhauses auf, trat ein – und erschrak.