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Ein seltener Fall von Liebe. Erzählungen von Joachim Nowotny
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
14.06.2013
ISBN:
978-3-86394-143-7 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 161 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Kurzgeschichten, Belletristik/Familienleben, Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert, Belletristik/Liebesroman/Erotika, Belletristik/Politik
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories, Familienleben, Liebesromane, 20. Jahrhundert (1900 bis 1999 n. Chr.)
Suizid, Wegwerfgesellschaft, Träumer, 2. Weltkrieg, Faschismus, Liebe, Ehebruch
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Herr Finke ist Lehrer für Mathematik und Sport, Er hat gelernt, alles zur rechten Zeit zu tun: Unterricht vorbereiten und halten, Schüler ermahnen und anspornen, Hefte korrigieren, Hilfestellung geben und auf der Trillerpfeife pfeifen - das füllt den ganzen Tag. Wo ist bei solch vielen Aufgaben Platz für Erinnerungen?

Es könnte höchstens sein, dass einer in der vierten Klasse sitzt, der so ist, wie Herr Finke einmal war. Etwa Tonio. Der eigentlich Anton heißt, aber diesen Namen aus begreiflichen Gründen nicht mag. Den manche Toni rufen, was aber zur Verwechslung mit Mädchen führen kann. Der sich also wünscht, dass man ihn Tonio nennt. Herr Finke tut es. Denn Tonio ist sein Sorgenkind, sowohl in Mathematik als auch in Sport. Und Herr Finke würde gern noch mehr tun, wenn er damit erreichen könnte, dass die schlechten Noten hinter Tonios Namen im Klassenbuch verschwinden. Vielleicht würde Herr Finke sogar jene Geschichte erzählen, selbst wenn er damit auch die unangenehmen Erinnerungen weckte.

Doch erst will er einmal sehen, wie sich Tonio am Reck macht. Der Felgaufschwung will nicht klappen. Tonio gibt sich Mühe, er fasst zu, holt tief Luft, will sich schon hochschwingen — da sieht er sich im letzten Moment fliegen, um die Reckstange herumwirbeln und fliegen, weit hinaus in die Turnhalle. Er fühlt, noch bevor er sich den kleinsten Ruck gegeben hat, den Schmerz des Aufpralls aus großer Höhe. Ihm werden die Hände feucht, die Knie weich, und aus dem Aufschwung wird ein müder Hänger. Selbst Herr Finke bekommt den schlappen Körper nicht über die Stange. Kurz und traurig pfeift Herr Finke auf der Trillerpfeife.

Was war los, Tonio?

Nichts, Herr Finke.

Versuch’s noch mal, Tonio!

Lieber nicht, Herr Finke.

Warum nicht?

Ich sah mich fliegen, Herr Finke. Ich flog und knallte aus großer Höhe zu Boden. Nun hab ich Angst.

Du wirst nicht fliegen. Das bildest du dir nur ein.

Ich weiß. Aber nun hab ich Angst.

Das ist dann so ein Augenblick, in dem Herr Finke die Geschichte am liebsten erzählen möchte. Ihm tut Tonio leid, denn er weiß, aus solchen Niederlagen werden später die unangenehmen Erinnerungen. Aber es ist viel zu laut in der Turnhalle für Geschichten. Und Herr Finke wartet doch erst die nächste Mathematikarbeit ab. Vielleicht schafft Tonio diesmal wenigstens eine schwache Drei. Bis jetzt hatte er fünf Vieren.

Fünf Vieren, Tonio, was soll das werden?

Ich weiß auch nicht, Herr Finke.

Wenn du wenigstens die Einer unter die Einer, die Zehner unter die Zehner und die Hunderter unter die Hunderter schreiben würdest. Du kannst doch rechnen! Du hältst bloß keine Ordnung.

Kann sein, Herr Finke.

Wo hast du nur deine Gedanken gehabt, als wir die Arbeit schrieben?

Draußen sang ein Pirol, Herr Finke.

Jetzt mitten im Winter?

Es war mir so. Ich hab ihn deutlich gehört. Und da sind mir die Zehner unter die Hunderter gerutscht.

Du hast auch über den Rand geschrieben, Tonio. Und deine Zahlen sehen aus, als hätte sie eine Henne in den Sand gescharrt.

Keine Henne, Herr Finke. Ein Pirol.

 

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