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Nach dem großen Aufstand. Ein Grünewald-Roman von Erik Neutsch
Autor:
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
28.08.2016
ISBN:
978-3-95655-211-3 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 357 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Biografisch, Belletristik/Christlich/Geschichte, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Politik
Biografischer Roman, Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, erste Hälfte 16. Jahrhundert (1500 bis 1550 n. Chr.), Deutschland
Grünewald, Isenheimer Altar, Mathis Neithart-Gothart, Maler, Bauernkrieg, Aschaffenburg, Halle/Saale, Frankfurt
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Käme nicht das aber schon einer Lästerung gleich? Und vermochte er selbst denn noch zu erfassen, was er mit seinen Strichen und Farben, mit all den wie Schlüssel von Legende zu Legende führenden Zeichen in seinen Bildern mitzuteilen gedachte?

Gela jedenfalls erschrak, als sie diese Dinge sah und haargetreulichst abgemalt als jene aus dem Kinderstübchen, dem Alkoven, der ihrem Sohn zugeteilt war, wiedererkannte. Ihr Glaube, begann sie zu fürchten, sei stiller, Gott dem Herrn untertäniger als der in dem aufgewühlten Künstlerherzen dieses Mannes, den sie aber doch liebte.

Sie saß auf der Bank in der Werkstatt und wiegte Endres in den Armen, damit er nicht gar zu laut schrie.

»Bleib so«, drang es plötzlich wie ein Befehl von der Bildwand zu ihr, »rühr dich nicht, bitte, beweg dich nicht.« Mathis griff hastig nach einem Blatt und zur Kohle, um sie wohl wieder einmal, wie sie’s gewöhnt war, in ihrer jetzigen Haltung mit einer Skizze auf das Papier zu bannen.

»Aber ich kann den Jungen doch so nicht beruhigen. So steif halten schon gar nicht. Mir erlahmen die Arme. Du vergißt, er ist schon ein halbes Jahr alt und hat sein Gewicht.«

»Trotzdem. Bemüh dich.«

»Laß ihn mich doch wenigstens an mich drücken.«

»Gleich bist du erlöst.«

Es schien tatsächlich, als beeilte er sich, verengte mehrmals zum Schlitz seine Augenlider, ließ seine Blicke zwischen ihr und der Zeichnung wandern und reichte ihr schließlich das Blatt.

Sie sah sich gut getroffen, und unverkennbar, obwohl nur mit wenigen Strichen hingeworfen, war es Andreas, den er konterfeit hatte. Wie stets bei solchen Gelegenheiten bewunderte sie, welche außergewöhnliche Gnade ihm mit seinem Malen zugefallen war. So wirklich, so nahe dem Leben, empfand sie, war es ein ständiges Suchen in ihm. Aber sie brauchte ihm das nicht zu sagen, dergleichen täten schon andere. Sie nickte nur.

Ihm jedoch reichte offenbar ihre Zustimmung nicht. »Gela«, und sie hörte es schon am Klang, er grübelte wieder. »Was ich mich immer gefragt habe ... Deshalb war mir genau dieser Augenblick wichtig. Nie fiele es mir ein, so unser Büblein zu halten und zu schuckeln. Ich meine ... Ach, überlaß ihn mal mir.«

Er konnte es nicht anders erklären, als daß er es vorführte. Er legte den linken Arm unter das Gesäß des Jungen und den rechten um seine Schultern. Dabei knickte das Köpfchen hintüber, und Endres begann aus Leibeskräften wieder zu schreien.

»Jesses Maria! Um Gottes willen!« Gela sprang auf. Nahm ihm das Kind ab, indem sie sofort überm Genick seinen Schädel mit der Hand stützte. »Das kannst du doch so nicht tun! Verstehst du denn immer noch nicht, daß in seinem Alter der Kopf für ihn noch viel zu schwer ist? Du bist aber auch ein Tölpel!«

Er wußte nicht, wieso, aber mit einem Mal gerieten ihm mitten in ihrer Schelte Dürers Proportionen in den Sinn. Der Kopf eines Menschen macht, ins Verhältnis gesetzt zu seinem Körper, ein Siebentel, außer - beim Kinde.

»Verzeih, Liebste«, sagte er und strengte sich an, die Miene eines Schülers, der soeben belehrt worden war, anzunehmen. Dann aber lächelte er: »Ja, genau. Das war es. Deine Hände, wie du sie hieltest ... Das meinte ich.«

Mit den überdeutlich links und rechts der Mitte in das Doppelgemälde gerückten, grell beschienenen Gegenständen der Wochenstube hatte Mathis die Verbindung gefunden zwischen Maria aeterna im Tempel Salomos, der Zeitlosen, wie einst von Tauler genannt, und seiner ganz irdischen Mutter mit dem Kinde, der Maria im Hiesigen, denn eine jede ihres Geschlechts, so denkt er, die einem Menschlein das Leben schenkt, empfängt das Licht der Barmherzigkeit Gottes. Und wer wollte ihm nun verübeln, wenn er für sie nicht auch Gela zum Vorbild nähme, seine geliebte Frau, sie vor sich auf der Bank in der Werkstatt sitzen läßt und sie bittet, ein ums andere Mal, in dieser oder jener Haltung zu verharren? Guersi, der von alledem wußte, gewiß nicht. Er hatte sich längst abgewöhnt, ihm in seiner Formen- und Farbensprache mit Forderungen zu kommen, ihm gar den Pinsel, als wär’s seine Zunge, wie unter der Folter auszureißen, ihm gar die Hand zu brechen, wenn er nur etwas schüfe, was des Erschauerns vor der Allmacht des Herrn würdig wäre, besonders in diesem Weihnachtsbild. Er zuckte die Achseln, wickelte sinnend die Spitzen seines Patriarchenbartes um die Finger und sagte: Tut, was Ihr nicht lassen könnt, Maestro. Soviel hab ich von Euch gelernt. Denn wo solltet Ihr sonst Eure Gesichter finden, wenn nicht in dieser Welt.

So umgibt er auch weder die Mutter noch den Knaben in ihren Armen mit einer Gloriole, dem heiligen Schein, streicht nur einen Hauch von Gold über ihre Scheitel, verzichtet auf alles, was, wie es seit jeher durch die Kunst geistert, an Krippe und Esel, an Joseph oder die Ankunft der Könige aus dem Morgenlande in der Ärmlichkeit des Stalles zu Bethlehem erinnern könnte. Ja, die vom Meister Schongauer hinterbliebene, wunderhübsch anzusehende »Madonna im Rosenhag«, die er mehrmals zuvor an ihrem Platz in der Stiftskirche Sankt Martin zu Kolmar betrachtet, gar studiert hat, steht ihm vor Augen, doch er darf sich auch davon nichts aufzwingen lassen. Weit, bis an des Himmels Grenze muß sich die Landschaft dehnen, und seine Gestalt soll nicht in einem Geflecht von Blättern und Blüten gefangen sein. Und hat denn der große Meister nicht bemerkt, daß eine Mutter so, ohne mit der Hand den Kopf zu stützen, niemals ihr Kind trägt?

Mathis kleidet seine Gela in fürstliche Gewänder; so wünscht er sie vor sich zu sehen. Es ist für ihn, als predigte er jetzt mit seinen Farben. Karminrot erstrahlt der Stoff, vom Hals herab bis in den Schoß, wallt über die Knie und fällt breit gebauscht, gewellt und reich gegliedert, zu Boden, in einer Fülle, die sofort alle Andacht auf sich lenkt. Von dort aber hebt sich das Auge wieder empor, nicht nur das des Kenners, so hofft er, schaut der Maria, der Begnadeten, ins Antlitz, gewahrt über dem tiefblauen, festlich gefältelten Seidenmantel ihr mit einem rötlichen Schimmer getöntes Blondhaar, und er weiß, ihre Züge passen so gar nicht zu einer Königin. Doch er verklärt sie nicht, macht sie nicht schöner, denn er liebt diesen Gegensatz, will zeigen, daß ihre Schönheit von innen her leuchtet, ihre Anmut in ihren Gebärden liegt, allein, wie sie den Kopf neigt und er es tausendmal an ihr erlebt hat, wie sich, und mag sie auch vom Volke sein und bäurisch, all ihre erhabene Güte dem Sohne zuwendet. Ihr Mutterglück ist es. Es steckt ihn an, stimmt ihn heiter, und trotzdem soll das Kind zugleich den Messias darstellen: Denn seht, ein Knabe ist uns geboren ... Er malt auch ihn, als sei er von dieser Welt, nackt, wohlgenährt und von strammer Gesundheit, verspielt, mit tapsigen Fingerchen an den Perlen im Rosenkranz nestelnd, und fragenden Blicks. Aber die Windel! Wie kann das sein? Vor dem Prachtgewand dieser Frau von einem vergilbten Weiß. Durchlöchert, zerfetzt. Mathis übernimmt sie von seinem Gemälde auf der ersten Schauseite des Altars, kündigt an: So wird dereinst Jesus Christus, mit demselben Tuch als Lendenschurz, auf dem Berge von Golgatha ans Kreuz genagelt werden und hängen.

Drei rote Rosen, sie dürften genügen, an einem Strauch ohne Dornen, das liebende Leid und die leidende Liebe, es hat auch diese Mutter, so seht!, als sie empfing und obwohl sie in Unehe lebt, nicht gesündigt. Der geschlossene Garten ihrer Unschuld, in dem sie ruht, zärtlich dem Kind zulächelt und mit ihm spricht, öffnet sich bis hoch zu Gottvater auf der goldenen Wolke, in der goldenen Aureole, und von seinem Thron gießt er das Licht des Verzeihens über sie und schickt eine Prozession fahnenschwenkender Engel zu ihr. Dahingegen der Feigenbaum ihr zur Seite, verwünscht von Christus: Denn in Ewigkeit soll niemand mehr eine Frucht von ihm essen ... Er scheint vom Gift durchädert in seinem ermatteten Laub, ein Zweig rankt auch schon sperrig über das Kreuz in der Pforte. Mathis kann erneut seine Befürchtungen nicht verschweigen. Das Haupt ist krank, nicht die Wurzel. Und unter dem Kleid der Maria platzen die Steinplatten aus den Fugen. Die Erde wird erbeben unter dem Zorn des Allmächtigen, die Kirche, gleich jener des Klostergebäudes im fernen Hintergrund über dem Zeichen des Leidens Christi, den roten Rosen von Jericho, wo er den einen Turm mit schadhaftem Dach in der Form einer Mitra malt.

Nach dem großen Aufstand. Ein Grünewald-Roman von Erik Neutsch: TextAuszug