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Hellwach, träumte Henning von dichtem kastanienbraunem Haar, das in der Sonne rötlich schimmerte, von braunen, abwesend blickenden Augen. Ich bin ihr gar nicht so gleichgültig, wie es aussieht, dachte er. Jan hat mirs doch gesagt. Und ich habs selbst schon gemerkt, dass sie mich manchmal ansieht, als wolle sie auftauchen aus ihrem Dämmern. Sie kommt nicht drüber weg, sagt Jan. Ob sie wirklich von einem Geist besessen ist? Oder ob sie einen Racheplan ausdenkt? Er hielt das letzte durchaus für wahrscheinlich, obwohl er wusste, dass die Erwachsenen an einen bösen Geist glaubten, von dem Libusa besessen sei.
Plötzlich schreckte Henning auf aus seinem Wachtraum. Da! Die Tür des Kriz-Hauses hatte sich geöffnet, schwacher Lichtschein fiel heraus, jemand trat auf die Straße. Finsternis dann. Undurchdringliche. Der dort herausgekommen war, ging ohne Laterne, ging allein. Beides, so dachte Henning, beides ist verdächtig. Denn normalerweise wird dem Besucher eines reichen Hauses heimgeleuchtet, von einem Diener.
Man müsste wissen, wer das dort ist, dachte Henning. Schwere Schritte; vergeblich bemüht sich da ein Beleibter, leise aufzutreten. Die Schritte kommen näher ...
Henning hielt den Atem an und starrte in die Dunkelheit. Aber erst als er die Schritte sich nähern hörte, sah er die Umrisse eines Menschen, der tatsächlich recht beleibt war und der ihm bekannt vorkam, schrecklich bekannt! Obwohl Henning genau wusste, dass man ihn auf keinen Fall sehen konnte, wenn er sich ruhig verhielt, machte er eine ausweichende Bewegung, versuchte, sich noch dichter an die Mauerwand zu pressen. Da er aber hockte und der Boden vom Vormittagsregen noch glitschig war, rutschte er mit den Füßen weg, saß mit dem Hintern auf der Erde. Sein Kopf schlug leicht gegen die Steine. Das hatte kurz hintereinander zwei Geräusche gegeben, und augenblicklich blieb der späte Besucher des Kaufmanns Kriz stehen, machte eine Wendung zur Kapelle, riss dabei sein Schwert aus der Scheide. Komm vor, wer von mir etwas will!, fauchte er halblaut.
Henning war vor Schreck wie gelähmt. Den dort kannte er. Wenn er dem nicht augenblicklich seine Ungefährlichkeit, seine Harmlosigkeit bewies, würde der ihn ohne Weiteres ins Jenseits befördern.
Denn der dort war weniger mutig, als es den Anschein hatte. Es war der deutsche Patrizier Gotthold Petersohn, Hennings Vater.
Die Gedanken des Jungen jagten wild durcheinander. Der Verrat liegt offen vor mir, dachte er; denn zu nächtlicher Stunde hat ein deutscher Patrizier mit einem tschechischen Kaufmann verhandelt, der ein hussitisches Ratsmitglied ist. Der Vater muss mich erkennen und für ganz harmlos halten. Allerdings heißt das eingefangen sein. Aber es geht nicht anders, und ich werde schon wieder entwischen können. Und wenn ich die Ohren weit aufsperre - vielleicht krieg ich wichtige Dinge zu erfahren. Er sah sich in Gedanken schon stolz vor Zizka, Ambroz und Mikulas stehen, die verräterischen Pläne der Prager Bürgerschaft enthüllend. Währenddessen hatte er begonnen, den schnell gefassten Entschluss in die Tat umzusetzen: Er schluchzte herzzerreißend, kindlich.
Angesichts des weinenden Kindes hatte Gotthold Petersohn sein Schwert zwar eingesteckt, war aber doch misstrauisch näher getreten, weil ihm die kauernde Gestalt zu groß zu sein schien für ein Kind. Er erkannte seinen Sohn nicht sofort. Erst als Henning, in seinem Schauspiel fortfahrend, den Kopf hob, die ängstlich-verstockte, furchtsam-aufsässige Miene zeigte, ohne die sein Vater ihn selten gesehen hatte, blieb dem vor Erstaunen der Mund offen stehen. Denn seinen Sohn Henning, den missratenen, von dem seit zwei Jahren jede Spur fehlte, hatte er längst aufgegeben - verschollen, vergessen, verdorben, gestorben? Gestorben also nicht. Willig ließ der Junge sich mitnehmen, erzählte von einer gefährlichen Flucht aus dem Heerlager der Ketzer. Wie war er dort eigentlich hingeraten? Wo hatte er die beiden letzten Jahre gesteckt? Natürlich musste man das klären.