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Es war Winter geworden. Und in diesen Tagen der Kälte, die beißend und stechend auf mich einwirkte, begann nun die Phase, in der ich mich auf weitere Prüfungen von Madame einstellen musste, die mir aber für meine Zukunft unabdingbar erschienen.
Als Erstes schickte sie mich in einen der äußeren Bezirke, die noch bestens ohne großen Aufwand zu erreichen waren. Mehrere Höfe und Weingärten stellten dort nebst einfacheren Gebäuden das Bindeglied zur sonst so schimmernden Stadt dar. Ich sollte an jenem Abend einen der Wachposten für Madame ausrauben, Wachtürme, die an manchen Punkten von Paris ihren Standort hatten. Dieser ausgesuchte Turm, so sagte sie, war einer der Einfacheren, weil er nicht so schwierig zu erreichen erschien und bei weitem nicht so gut gesichert anmutete, wie sich die meisten anderen darstellten. Auch hier lagerten die Gefolgsleute des Königs Unmengen an Wertsachen.Viel zu häufig und sehr, sehr oft wurden sie unschuldigen Menschen entrissen. Skrupellos. Engstirnig. Grausam. Herzlos. Es war bezeichnend für das Vorgehen der Wachen gegenüber uns normalen Bürgern. Natürlich gehorchte ich und begab mich abends auf die Reise. Es war bitterkalt an eben jenem Abend und leichtes Schneetreiben herrschte. Bei jedem meiner Schritte knirschte das kalte, weiße Etwas unter meinen Füßen, auch wenn nur wenige Zentimeter Neuschnee lagen. Ich mochte Schnee nicht besonders, aber tapfer zog ich meinen Mantel enger an mich und marschierte vorwärts in dieser eisigen Nacht. Als ich endlich im Bezirk ankam, war bereits die Dunkelheit eingefallen und in den Fenstern der Häuser schimmerte jetzt wohlig warmes Kerzenlicht, das hell herausschien. Mich persönlich erwärmte dieser Anblick, weil ich auch in diesem Moment wieder an Elá denken musste. Allein der Gedanke an sie vermochte es, dass es mir besser ging, und ich konnte die Kälte für einen Moment vergessen.
Plötzlich hörte ich Schreie. Abstoßend. Weinerlich. Verängstigt. In dem Moment kamen die Erinnerungen an meine Mutter zurück. Diese Schreie! – Ich war nicht imstande, sie zu verdrängen. Ich konnte nichts Genaues vernehmen, also entschloss ich mich, diesen Lauten auf die Spur zukommen. Ich lief in die Richtung der akustischen Wahrnehmung und versteckte mich hinter einer Hausmauer.
Da waren sie! – Die Wachen des Monarchen. Sie schlugen einen älteren Weinbauern und einer von ihnen zerrte ein junges Mädchen aus ihrem Haus. Das unschuldige Ding weinte bitterlich und war völlig aufgelöst. „Wir wollen Spaß haben, alter Mann!“, nörgelte einer dieser Widerlinge in die Richtung des Mannes. Der Bauer bettelte und winselte um Gnade, flehte darum, dass sie – bitte! – seiner Tochter nichts anhaben mögen. Doch die Dreckskerle lachten nur, als sie ihm wieder einen Hieb in die Rippen verpassten. Nun schnappte sich einer von ihnen das Mädchen und zerrte sie mit abscheulichem Gelächter ins Haus – die anderen verharrten angesäuert bei dem geschundenen Mann.
Ich kochte innerlich. Voller Wut und Hass ballte ich meine Hand zu einer Faust und wusste, dass ich nun eingreifen musste. Ich war nie der Stärkste, aber dank meiner Fähigkeiten und Schnelligkeit sowie meiner Handlungs- und Auffassungsgabe, die sich in letzter Zeit noch verfeinert hatten durch Madames übendes Zutun, heckte ich in Sekundenbruchteilen einen Plan aus. Insgesamt waren es drei Handlanger des Königs, und im Schutze der Dunkelheit schlich ich mich – auf leisen Sohlen – an den beiden vorbei und stieg durch ein Fenster in das Gebäude. Im Inneren angekommen, hörte ich nur weinerliches Gestammel und ein Geraunze. Mir war klar, dass sie das Mädchen vergewaltigen wollten. Das konnte ich unter keinen Umständen zulassen – ich musste dies verhindern. Ich schlich mich zum Raum, wo dieses übel riechende Monster sie nun hinbrachte, und sah, dass sich das junge Ding – heulend – nach Kräften wehrte. Dieses ekelhafte Stück Fleisch stand zum Glück mit dem Rücken zu mir, als er ihr die Kleider vom Leib riss. Ich zögerte keine Sekunde und schnappte mir einen kleinen Eisenbarren, der am Boden lag. Voller Wut und Ekel hämmerte ich nun diesem Mann mehrmals von hinten auf seinen Kopf. Wieder. Und immer wieder. Aufhören konnte ich nicht, denn mein Hass, der sich in mir aufstaute, war einfach zu groß. Der Mann war bereits bewusstlos, als ich mich endlich aufrichtete. Das Mädchen war völlig verstört, als ich ihr die Kleider zuwarf. Sie weinte. Sie schluchzte. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich sagte zu ihr, sie solle sich verstecken, denn um den Rest würde ich mich kümmern. Mit Tränen im Gesicht nickte sie, doch ein kurzes Lächeln war trotz allem erkennbar, und genau das bestärkte mich wiederum in meinem Vorhaben. Schon als Kind war ich für meine Streiche bekannt, und genauso wollte ich nun die anderen beiden weglocken. Ich zerrte die regungslose Wache zur Tür und riss diese in einem Zug auf. Kein Wort fiel in diesem Moment, die zwei Rüpel schienen nur entsetzt und erstaunt zu sein. Nun begann ich zu laufen – und natürlich folgten sie mir. Schnell wie der Blitz – ich war von Madame ja gut geschult worden – verschwand ich in der Dunkelheit. Ich kletterte auf ein höhergelegenes Gebäude, und beobachtete die Tölpel, während sie mich suchten. Sie wollten sich aufteilen – und das war eindeutig ein Fehler.
Den Ersten erreichte ich in nur wenigen Sekunden – ich sprang ihm von oben herab ins Genick – um ihm nun so lange ins Gesicht zu schlagen, bis auch er sich nicht mehr rührte. Ich spürte nur eins: Aggressivität. Warum? Weil ich durch den Gedanken geprägt war, was diese Mistkerle vorhatten!
Dem Zweiten lauerte ich nun einfach auf. Als er zum Schauplatz kam, wo der Erste lag, verfiel er irgendwie teilnahmslos in eine tiefe Schockstarre. Rumms! – Ich donnerte ihm die Rückseite einer Axt auf den Kopf, die ich mir schon eine Weile zuvor in einer Scheune geschnappt hatte. Beide zerrte ich nun zurück zu dem Haus, das glücklicherweise nur wenige hundert Meter entfernt war. Ich entwaffnete sie und riss ihnen ihre Kleider vom Leib. Danach band ich alle drei an einem Apfelbaum fest, der neben dem Gebäude stand. Sie waren noch immer regungslos, als ich sie mit einem Seil, das mir der gütige Weinbauer gegeben hatte, festzurrte. In eben jener Nacht hinterließ ich auch das erste Mal meine Duftmarke. Im Inneren des Hauses schnappte ich mir ein Stück Papier und schrieb mit einer Feder „Cartouche“ darauf. Eben dieses Stück Papier legte ich auf die Beine der nun geknebelten und gefesselten Wachen; sie sollten wissen, wer das war. Eine gewisse Arroganz, die mich auch manchmal in Gefahr brachte, sollte mich mein Leben lang begleiten. Dem alten Weinbauern sagte ich, dass er verschwinden solle – er musste mit seiner Tochter flüchten. Wenn ihm eine Person jemals wieder so etwas antun würde, könnte er sich jederzeit an mich wenden. Er sollte vorsichtig sein, sobald er anderweitig Zuflucht gefunden hatte. Er wusste, dass er fürs Erste aus der Stadt raus musste, und packte alle wertvollen Besitztümer: Er lud alles, was für ihn wichtig war, in seine Kutsche. Irgendwann wollte er aber zurückkehren, so sagte er zu mir, denn dies hier war sein Heim. Und in diesem Heim verstarb sein Weib, vor einem Jahr, bei einer Fehlgeburt. Mutter und Kind – beide tot. Dieser Mann hatte nur mehr sein erstgeborenes Mädchen.
Ich versicherte ihm, dass er eines Tages zurückkehren könnte, denn diese Halunken würden sich das Erlebte schon merken – ich hoffte es zumindest. Das Mädchen war noch immer völlig verstört, und wer konnte ihr es auch verdenken?! So unschuldig und rein! … Monster! – Die Wachen waren scheußliche Monster.
Zu später Stunde, die noch dazu durch die kalte Jahreszeit geprägt war, mussten nun einfache Leute, denen das Leben sowieso schon übel genug mitgespielt hatte, ihr gewohntes Leben verlassen – um zu überleben. Ein abscheulicher Gedanke und eine abartige Wahrheit! Und dies passierte nur, weil des Königs Gefolge aus miserablen Menschen bestand.
Solche Szenarien waren meine Gründe, die mich immer mehr in mein zukünftiges Schicksal trieben. Ich konnte es einfach nicht mitansehen, wenn Mitmenschen leiden mussten, und so wusste ich, dass ich auf den Pfaden von Madame Clarot richtig war. Genau dieser Weg sollte meiner sein – ich wollte helfen – und dies wurde mir in solchen Momenten richtig bewusst. Ich hoffte und wünschte es mir – aus ganzem Herzen –, dass die beiden fürs Erste Geretteten nun endlich Ruhe und etwas Glück fanden – denn sie verdienten dies.
Spät in der Nacht wandte ich mich nun endlich meinem eigentlichen Ziel zu: dem Wachposten. Einige hundert Meter entfernt befand sich die Beobachtungswarte, und man konnte sie nicht verfehlen. Mein Raubort war eine Art steinerner Turm, der mit einigen Fackeln bestückt war. Dieser wurde nur von drei Wächtern bewacht, und genau jene hatte ich durch eine Fügung menschlicher Natur bereits umgangen. Im obersten Stockwerk, in das eine kleine Wendeltreppe hinaufführte, lagerten zu dieser Minute vielerlei Reichtümer. In erster Linie horteten sie Schmuckstücke und Livre, die in einer hölzernen Truhe aufbewahrt wurden. Mit meinen Dietrichen öffnete ich diese und das Erbeutete steckte ich in einen Leinensack, den ich oben vorgefunden hatte. Mit einem Messer ritzte ich auch hier wieder meinen Namen in die Truhe. Von nun an sollte jeder wissen, wer hier sein Unwesen trieb. Cartouche. Der Räuber.
Mit Genugtuung trat ich nun, da meine Aufgabe erfüllt war, den Nachhauseweg an. Die Kälte machte mir zu schaffen. Ich fröstelte und bibberte, aber dennoch wusste ich, wer ich in dieser Nacht geworden war. Von nun an hegte ich keinerlei Zweifel mehr, ob ich das Falsche machte. Im Gegenteil, mir wurde klar, dass in unseren Zeiten das Falsche auf seine Art und Weise das Richtige bedeutete. Völlig fertig von den Erlebnissen und verschmutzt, kam ich irgendwann mitten in der Nacht vor den Toren des Anwesens von Madame Clarot an. Ich war so erschöpft, dass ich sofort zu Bett ging. Kurze Zeit später schlief ich ein.