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Aber, o weh, die Eintrittspreise waren märchenhaft hoch, und meine paar Heller reichten nicht einmal für ein Stehplätzchen in der Galerie. Ich versuchte alles, um mir das Geld zusammenzuborgen. Doch es war Ferienzeit. Meine reichen Verwandten, die Preills, waren verreist, und im Kontor saß neben mir nur noch der alte Buchhalter, der es mit seinen acht Kindern schwer genug hatte, sich durchs Leben zu schlagen. Aber um nichts in der Welt konnte ich dieses Konzert versäumen!
Ich zog meine besten Kleider an, ging am Abend zum Unionssaal, wo sich die glücklichen Kartenbesitzer in den Saal drängten. Ich wagte den Versuch, mich an dem Kontrolleur vorbeizuschmuggeln. Ungeübt wie ich war in derlei betrügerischen Manövern, wurde ich ertappt. In meiner abgrundtiefen Verlegenheit suchte ich eifrig in allen meinen Taschen nach der Karte, die ich nicht besaß, und wäre weiß Gott vielleicht dem nächsten Gendarmen überliefert worden, hätte sich nicht ein unerwarteter rettender Engel gefunden.
Da stand er plötzlich zwischen mir und dem Kontrolleur, ein hochgewachsener blonder Gymnasiast mit der Primanermütze auf dem Kopf, vielleicht nur ein Jahr älter als ich, aber schon eine richtige weltmännische Erscheinung. Er klopfte dem Zerberus jovial auf die Schulter: Na, Väterchen!
Der Kontrolleur verbeugte sich tief: Guten Abend, mein Herr.
Der Jüngling überreichte ihm zwei Karten: Meine und seine da.
Der Kontrolleur stutzte.
Der Gymnasiast: Es ist doch wohl alles in Ordnung, oder?
Der Kontrolleur, devot: Sehr wohl, mein Herr.
Und ich war zugelassen zum Konzert.
Ich saß neben meinem Retter, selig, und ließ mich forttragen von der Musik in eine andere, von allen Niederungen befreite Welt.
Zuweilen, erwachend aus meinen Träumen, blickte ich verstohlen auf meinen Nachbarn, der ebenso ergriffen schien wie ich. Einmal begegneten sich unsere Augen, und der Gymnasiast lächelte mir zu.
Zum Abschluss spielte das Orchester die dritte Sinfonie, deren Töne noch in mir nachklangen, als ich schon längst auf der Straße war. Ich hatte an der Seite meines Nachbarn den Konzertsaal verlassen. Nun gingen wir schweigend nebeneinanderher die Allee hinunter. Als ich mich verabschieden wollte, um in Richtung meiner Behausung zu marschieren, hielt der Gymnasiast mich zurück: Nein! Nicht nach Hause jetzt! Er wies auf die Anhöhe im Norden: Bleiben wir noch ein Stündchen zusammen.
Ich stimmte freudig zu, und er stürmte voran, aus der Stadt hinaus, einen Wanderweg den Berg hinauf, durch einen lichten Kiefernwald bis auf das Felsplateau. Jetzt erst blieb er stehen, atmete tief, blickte über das Tal, wo die vielen Lichter in den Häusern und Straßen brannten, und zu den Sternen am Himmel auf. Endlich begann er zu sprechen: Ich habe noch nie eine Beethovensinfonie mit vollem Orchester gehört. Nun weiß ich, wenn es Gott überhaupt für nötig hält, zu den Menschen zu sprechen, dann nicht durch das Salbadergewäsch der Pfaffen, sondern durch diese Musik.
Eine Weile lauschte er schweigend in die Nacht, als hörte er noch das Orchester. Dann wandte er sich an mich: Mein Vater will, dass ich in seine Fußtapfen trete. Ein Leben zwischen Schacher, Gebeten und plüschverbrämter Familienidylle - wie widerwärtig, ekelerregend, tötend angesichts der Kraft solcher Musik.
Plötzlich drehte er sich wieder dem Tal zu, dem Sternenhimmel und fuhr in feierlichem Ernst fort zu reden: Ich habe deine Stimme gehört, Ludwig van Beethoven! Für die Freiheit und Würde der Menschheit zu kämpfen, solange Leben in uns ist - das ist deine Botschaft!
Ein Schauer überlief meinen Rücken. Was er aussprach, das waren meine eigenen Gedanken. Ich wollte ihm zustimmen, zujubeln, um den Hals fallen. Doch bevor ich meiner Bewegung Herr geworden war, fuhr er fort: Schande, ewige Schande über den, der einmal diese Botschaft in sich vernommen und danach feige zurückkehrt in die erbärmliche Welt der Philister.
Er schwieg wieder. Schien sich erst nach einer Weile wieder auf mich zu besinnen, blickte mir ins Gesicht, fragend, Zustimmung oder Erwiderung erheischend - eben endlich eine Äußerung, ein Wort aus meinem Munde. Aber was sollte ich schon sagen? Alles war gesagt. Was hätte ich noch hinzufügen können?
Ich hörte in mir das Eroika-Motiv. Mein Herz war so übervoll von Bildern, von Gefühlen, vom Erlebnis ... Plötzlich begann ich zu sprechen. Der Teufel muss mich geritten haben.
Erst nach und nach bemerkte ich, es waren Verse. Ja, ich redete in Versen. Ich weiß nicht mehr, was für Worte ich gebrauchte. Ich habe überhaupt nicht nachgedacht darüber. Es war, als wäre irgendwo in meinem Innern eine Quelle aufgesprungen, die einfach ohne mein Zutun zu sprudeln begann. Ein Rausch, ja, es war ein Rausch. Er endete, wie er begann, jäh und unerwartet. Dicht über unseren Köpfen der Ruf einer Eule, und es war zu Ende.
Schöne Verse, sagte mein Begleiter. Von wem stammen sie?
Ich zuckte die Schultern: Ich weiß nicht. Sie fielen mir eben so ein.