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Nun berichtete Rosa von daheim, überbrachte Grüße vom Vater, der sich wieder gesund und stark fühle, aber von einer unstillbaren Sehnsucht erfüllt sei, seinen Sohn wiederzusehen. Dann erzählte sie viel Trauriges, aber auch manch Tröstendes. Alle Grüße an Freunde und Bekannte seien ausgerichtet und die Aufträge erfüllt worden. Ich habe in der Gefängniskasse zehn Mark für dich eingezahlt und dir frische Wäsche und Zigarren mitgebracht. Die hat Vater von seinem Ersparten für dich gekauft. Man wird sie dir sicher unbeschädigt aushändigen. Dann fügte sie mit einer Betulichkeit, die sonst nicht ihre Art war, hinzu: Auch unser liebes Irmchen hat dir etwas in das Päckchen gelegt. Du wirst dich darüber ganz besonders freuen.
Schnell war die Besuchszeit zu Ende. Noch schwerer als bei der ersten Visite fiel der Abschied. Schade nur, dass alles so überraschend kam, dass er keinen Kassiber vorbereiten konnte, den er Rosa leicht hätte zuschieben können.
Schon brachte man ihn in die Zelle zurück. Der Beamte, der mit im Zimmer war, ging voran. Ein zweiter, den er noch nicht kannte, folgte mit dem durchwühlten Paket unterm Arm. Da, an der Zellentür, geschah etwas Unerwartetes. Während der erste Beamte das schwere Schloss öffnete, flüsterte der andere ihm ins Ohr: Vorsicht, Zelle ist durchsichtig!
Thälmann ließ sich nichts anmerken, nahm das Paket, stellte es auf den Tisch, erfrischte sich in der Waschschüssel, ging gleichgültig zur Pritsche, ordnete die Decke und setzte sich an den Tisch, um sein Paket auszupacken, möglichst unbefangen, denn sollte die Mitteilung stimmen, so durfte ein unsichtbarer Beobachter keinen Hinweis bekommen, dass er gewarnt worden war. Während er die Sachen auf dem Tisch ausbreitete, betrachtete er unauffällig Wände und Decke der Zelle. Sie waren glatt verputzt. Nirgendwo gab es eine verdächtige Stelle. Dann tasteten seine Blicke die Ausstattung der Zelle ab, das Wandbord, den kleinen, schon rissigen Rasierspiegel über der Waschschüssel, den Toilettenkübel, die Schlafpritsche, doch er fand keine Auffälligkeiten, die darauf schließen ließen, dass man in die Zelle außer durch den üblichen Türspion, der sich mit dem Rücken verdecken ließ, durch eine weitere Vorrichtung hineinsehen konnte. Lediglich die Deckenlampe über dem Tisch wies eine Besonderheit auf, die nicht recht zu der übrigen kargen Einrichtung passte. Über der Glühbirne war ein Reflektor aus matt schimmerndem Glas an einem Unterzug, der quer durch den Raum lief, befestigt. Das Material dieses Reflektors sah anders aus als gewöhnliches Pressglas, es wirkte wie geschliffenes Kristall. Wenn sich die Untersuchungsbeamten den Aufwand leisteten, ihn von außen zu beobachten, dann war dieser seltsame Reflektor über dem Tisch ihr Auge. Er beschloss, diese Möglichkeit von nun an in Rechnung zu stellen.
Erst jetzt dachte er über den Wachbeamten nach, der ihn gewarnt hatte. Ein Antifaschist unter den Gefängniswärtern, das konnte von unschätzbarem Wert für ihn sein.
Er begann in aller Ruhe das Paket auszupacken. Er vermutete aufgrund der besonderen Betonung, mit der Rosa seine Aufmerksamkeit auf Irmas Geschenk lenkte, dass in diesem Gegenstand versteckt eine Nachricht von draußen eingeschmuggelt worden war. Bald schon fand er das Mitbringsel Irmas. Ein Stück der Rasierseife Marke Rotpunkt, die er immer gern benutzt hatte. Auf der Verpackung war ein Gruß von Irma gemalt. Sonst wies das Schächtelchen keinerlei Besonderheiten auf. Nur ein wenig leichter als üblich erschien es ihm. Er legte es beiseite. Ziemlich sicher war er sich nun, dass sich in der Seife eine sehr geschickt vorgenommene Aushöhlung befand. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, räumte er die Wäsche, das Kistchen Zigarren und die Packung Kekse in das Bord. Dann brachte er das Stück Rasierseife zur Waschschüssel.
Erst am nächsten Morgen, zu der Zeit, da er sich üblicherweise rasierte, nahm er die Seife aus der Pappschachtel und untersuchte sie. Dabei achtete er darauf, dass er mit dem Rücken zur Deckenlampe stand. Rasch fand er das Bohrloch. Es war leicht, den eng zusammengerollten Kassiber herauszulösen. Während er sich wie immer recht sorgfältig rasierte, rollte er das Papier auseinander, ein winzig beschriebener Kassiber mit dem Signum John Schehrs. Was er las, befreite ihn von der Unruhe, die ihn seit seiner Verhaftung plagte. Die älteren Genossen des Politbüros, an ihrer Spitze Wilhelm Pieck, hatten Deutschland illegal verlassen können und mittlerweile in Paris die vorbereiteten Quartiere bezogen. Sie setzten ihre politische Führungsarbeit fort und waren dem Zugriff der Hitlerschergen nicht mehr ausgesetzt. Die weiteren Informationen ließen sein Herz höher schlagen. Eine Weltfront der Arbeiterklasse hatte sich gebildet, die um die Befreiung der politischen Gefangenen des Naziregimes kämpfte. Namentlich forderten sie die Freilassung Ernst Thälmanns und Georgi Dimitroffs. Viele demokratische Organisationen und namhafte Geistesschaffende hatten sich dieser Bewegung angeschlossen. Sie griffen das Naziregime in der internationalen Presse an und zwangen es dadurch, sich zu verteidigen und den Mantel humanitärer Rechtschaffenheit umzuhängen. Das konnte helfen, Tausende der eingekerkerten Genossen vor dem Schlimmsten zu bewahren! Unter Führung des im Land verbliebenen John Schehr setzte die Partei ihren Kampf gegen das Hitlerregime bei Beachtung der strengsten Regeln der Konspiration fort.
Bevor er seine Rasur beendete, verschluckte er den Kassiber.
Als man ihm das Frühstück brachte, sah er durch die Klappe das Gesicht jenes Gefängniswärters, der ihn gewarnt hatte. Er sah ihn dankbar an.