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Das Wunder von Leningrad von Erwin Johannes Bach, Aljonna Möckel (Herausgeber), Klaus Möckel (Herausgeber)
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Preis E-Book:
4.99 €
Buch:
10.80 €
Veröffentl.:
01.12.2017
ISBN:
978-3-95655-853-5 (Buch), 978-3-95655-854-2 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 60 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Geschichte, Belletristik/Kurzgeschichten, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Biografisch, Belletristik/Jüdisch
Tagebücher, Briefe, Notizbücher, Historischer Roman, Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories, Berlin, Russland, Erste Hälfte 20. Jahrhundert (1900 bis 1950 n. Chr.)
Leningrad, 2. Weltkrieg, Blockade, Tschaikowski, Konzert, Hunger, Sinfonie, Musiker, Uraufführung, verfemte Musik, Jude
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Die Stadt Leningrad, zerfasert und zerfleischt, deren letzten Lebensäußerungen noch der Krieg und die Blockade den Stempel aufdrückten, erkannte innerlich den Krieg nicht an. Die Fabriken arbeiteten weiter. Die Menschen, als es keine Straßenbahnen und Verkehrsmittel mehr gab, übernachteten auf den Arbeitsstätten oder machten täglich unter Beschuss und Bombardierung meilenlange Wege hin und zurück, unter Trümmern auf in den Schnee eingetretenen Zickzackpfaden in der weißverwehten Stadt, im Winter 1941/42, im Winter 1942/43. Aber es gab in jenem Leningrad kein stummes, kein schicksalergebenes selbst tapferes Ertragen, wie in anderen belagerten Städten, sondern man war sich einer Aufgabe, und mehr als das, war sich einer Mission bewusst. Die Menschen fielen auf den Straßen und Plätzen vor Kälte, vor Hunger und vor Erschöpfung um, aber die Schulen und Hochschulen blieben in Tätigkeit. Als durch die Stadt unzählige Lastkraftwagen fuhren, hochbeladen mit Leichen, Handschlitten gezogen wurden mit Toten, für welche die Särge fehlten, blieben die Museen geöffnet, spielten die Theater und die Lichtspielhäuser, wurden Premieren herausgebracht, Konzerte gegeben. Als in gefrorenem Zustande die Leichname, welche nicht bestattet werden konnten, in den Zimmern durch Wochen aufbewahrt wurden, weigerten sich die Institute, weigerte sich die Akademie der Bildenden Künste, evakuiert zu werden, durch Flugzeuge über die Front hinweg die einzige Möglichkeit.

 

Es arbeiteten weiter die Forschungsinstitute der Stadt, es arbeitete weiter das Wissenschaftliche Forschungsinstitut für Theater und Musik, an welchem ich selber tätig war, und dessen Kunstschätze, Sammlungen, die Instrumentensammlung, die Forschungsmodelle neuer Instrumente in Sicherheit gebracht worden waren. Der Musikhistoriker, Professor Gruber, mein Kollege, welcher zufällig mit einem wissenschaftlichen Auftrag mehrere Monate auswärts war, ließ sich ins belagerte Leningrad einfliegen, wo er bis zum Kriegsende, in der Druckerei übernachtend, vor Hunger  sterbend,  über die Drucklegung seines Werkes und die Sicherstellung der Matrizen wachte. Das Werk wurde während der Belagerung in kostbarer Ausgabe zu Ende gedruckt.

 

Schostakowitsch schrieb in der blockierten Stadt seine Siebente Symphonie, die Leningrader Symphonie. Im August 1942, noch während der schlimmsten Zeit, erklang sie zum ersten Male in der festlich erleuchteten Leningrader Philharmonie. Hierfür gab es elektrischen Strom. Beschuss und Bombardement existierten nicht für Publikum und nicht für Orchester. Bei den noch alarmierten, aber dennoch gefasst in eine lichte Zukunft weisenden, triumphierenden Schlussklängen des letzten Satzes erhoben sich die Zuhörer von ihren Plätzen. Woher nahmen sie die Zuversicht und die Gewissheit, damals zur schlimmsten Zeit, in der noch völlig abgeschnittenen Stadt? Konzertsäle wurden vernichtet, das Opernhaus schwer beschädigt, die Ensembles suchten sich andere Plätze. Das Dramatische Theater brachte Stücke zeitgenössischer Schriftsteller und Klassiker des In- und Auslandes zur Aufführung: der Franzosen, der Deutschen, der Amerikaner. Die Operette arbeitete während der ganzen Zeit der Blockade, die Theater waren stets überfüllt. In den Konzertsälen und Schauspielhäusern stand ein Frost von sechs Grad. Die Musiker repetierten in Pelzen, beim Scheine winziger, rußender Petroleumlämpchen. In den Lichtspieltheatern gab es sowjetische und amerikanische Filme. Es gab Dichterabende, Jubiläen wurden nicht vergessen, die Professoren des Leningrader Konservatoriums veranstalteten Klavierabende. Auch in den furchtbarsten Tagen spielten zwei dramatische Theater, das Große Dramatische Theater nahm 1943 seinen Betrieb wieder auf. Die Bevölkerung, durch Schanzarbeiten, Hunger und eisigen Frost zu Tode erschöpft, erfuhr ihren lebendigen Auftrieb aus der Fortführung ihres kulturellen Lebens. Die Schüler wurden von einer Klasse in die andere versetzt, Studenten legten ihre Prüfungen ab, Dissertationen wurden verteidigt. Der Krieg war unter der Würde des Menschen. Beethovens Fünfte, Beethovens Neunte erklangen, Schillers Hymnus an die Freude, Freiheit und Menschheitsliebe, Umschlungensein der Millionen, als Millionen starben. In Deutschland durfte Tschaikowski nicht aufgeführt werden. Die Öffentliche Wissenschaftliche Bibliothek war in Funktion. Große symphonische Konzerte fanden auch im Puschkintheater statt. Es gab keinen Krieg, und es gab keine Barbaren. Dutzende von Musikern, von Schauspielern wurden getötet, andere Dutzende verstarben. Die Überlebenden sammelten sich wieder und formierten neue künstlerische Körperschaften. Das Dramatische Theater, früher im Granowskihaus, siedelte um ins Haus der Komödie.

Als der Schreckenswinter, der Winter des Entsetzens, 1941 über die Stadt hereinbrach, da gab es – es gab die Eröffnung der Wintersaison neunzehnhunderteinundvierzig-zweiundvierzig. Und weil sie mir mit einem persönlichen Erlebnis verbunden ist, höher und schöner als viele andere von mir erlebte Begebenheiten, so will ich dabei verweilen. Ein dunkler Oktobernachmittag, kaum zeichneten sich im Grau und Düster des Wolkenhimmels die Umrisse des Konzertgebäudes der Leningrader Philharmonie ab. Vermummte Gestalten strömten in Scharen zu Fuß herbei. Das Große Haus war ausverkauft, nicht alle fanden Einlass. Im glänzend illuminierten, peinlich nach außen abgedunkelten Saal eine festtägliche Atmosphäre. Der Dirigent, einer der besten Dirigenten Leningrads, Karl Eliasberg, im Frack, die Orchestermitglieder im Smoking. Krieg? Nein! Die Herren im Publikum im Abendanzug, die Damen in langen Roben. Auf dem Programm stand als Hauptwerk die Vierte Symphonie von Tschaikowski. Lag es an meiner eigenen Aufgeschlossenheit, lag es an dem Enthusiasmus der Mitwirkenden, lag es an der unvergleichlichen Leistung des Dirigenten, welcher in federndem Aufbau die Symphonie bei aller Beobachtung der Details zu einer wunderbar gestrafften Aufführung brachte – ich war erfüllt von visionären Bildern in Selbstvergessenheit und Entrücktsein, wie mit ihnen nur die Musik den Menschen in seltenen Augenblicken begnadet. Es machte nichts aus, dass die Bilder dieses inneren Erlebens im völligen Widerspruch standen zu dem vom Komponisten selber dem Werke unterlegten programmatischen Inhalt. Ich weiß, dass jeder Leningrader an diesem Abend das Werk auf seine Weise erlebte, wie ein Kunstwerk eben dadurch universal ist und seine Vollkommenheit erweist, dass ein jeder ein eigenes Stück Welt darauf auf neue Art erkennt, ungeahnte Bezirke seines eigenen Ichs durchspürt, nicht nur ein jeder anders, sondern auch ein jeder ein jedes Mal auf neue Weise sich selbst erlebend, die Begrenzungen seines Seins erweiternd  und hinausschiebend.

Und ich begriff an jenem Abend Tschaikowski, wie ich ihn nie begriffen hatte. Aber in der Tat, hier wurde höchste Kunst geboten. Krieg, Blockade? Irrelevante Dinge! Ich gestehe, ich ging in jenen schrecklichen Tagen wenig in Theater und Konzerte, ich bin kein Russe, und ich bin kein Leningrader. Und der Dank, den ich an dieser Stelle für eine der großen Bereicherungen meines Lebens auszusprechen habe, gilt den Leningradern.

An jenem Abend gab es auch für mich keinen Krieg. Ich erlebte den Geist der Menschheit in Tschaikowski. Im ersten Satz der Symphonie fühlte ich ein faustisches Ringen, sah sich auftürmende  Felsbrocken und Bergesgipfel, es erstanden vor meinen Augen die Walpurgisnacht, Lemuren, Nymphen, die sich in Bergseen, auf dem Kopfe stehend, wundersam widerspiegelten, Irrlichter aufflackernd und wieder verlöschend, junge Hexen in phosphoreszierendem Licht, aufglimmend und wieder sich auflösend, Liliths herrliche Glieder. Gleichgültig, was ich sah, aber welch seltene Augenblicke im Leben, da der Mensch außer seiner oder ganz in sich selbst und wahrhaft glücklich ist.

Das Wunder von Leningrad von Erwin Johannes Bach, Aljonna Möckel (Herausgeber), Klaus Möckel (Herausgeber): TextAuszug