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Der Friede im Osten. Viertes Buch. Nahe der Grenze von Erik Neutsch
Autor:
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
26.04.2013
ISBN:
978-3-86394-400-1 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 382 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert, Belletristik/Familienleben, Belletristik/Politik
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Familienleben, Liebesromane, 20. Jahrhundert (1900 bis 1999 n. Chr.), Kriegsromane
CSSR, DDR, NVA, Fremdgehen, Alkoholiker, Hollygans, Jugendgang
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Nein, die Schritte der Mutter waren es nicht. Der Vater befand sich ohnehin wieder auf Reisen. Vielleicht weilte er wirklich in Berlin, vielleicht auch nur dort, wo er nach seiner Geographie Berlin angesiedelt hatte. Aber was störte es ihn noch! Ihm, Robert, war es gleich, schnurzpiepe, wo sein Alter die Nächte verbrachte. Lina Bonk, nach dieser Enttäuschung, war nicht mehr sein Typ. Ihr Bild war ihm während seiner Abwesenheit entwendet worden. Aber selbst, wenn er es noch besessen hätte, er hätte es zerrissen und seine Fetzen durchs Klobecken gespült. Dort gehörten sie beide hin, sie und sein Vater ...

Clara ... Es konnte nur Clara sein, die so spät umhergeisterte. Eine dumpfe Ahnung befiel ihn, und er mußte ihr nachgehen. Was hatte denn sie noch, um diese Zeit, im Wohnzimmer zu suchen?

Einige Male, obwohl zögernd, mit verhaltenen Worten, ihrer Sache nicht sicher, hatte sich in den letzten Wochen die Mutter darüber beklagt, daß ihr im Portemonnaie Geld fehle, und stets dabei ihn mit mißtrauischen, fast strafenden Augen angesehen. Nachdem jedoch seine Schwester in der Kaufhalle die Schokolade gestohlen hatte, waren ihre Blicke - und diesmal trauriger denn je, wie ihm schien - vom einen zum anderen gewandert. Er vermutete, daß es sich nur um Pfennigbeträge handelte, dieses oder jenes Markstück, aber er, das konnte er beschwören, mußte er wohl von sich selber hundertprozentig wissen, war in dieser Beziehung sauber.

Er kroch aus dem Bett, schlich sich durch den Korridor. Wenn das zuträfe, was er glaubte, sein detektivischer Spürsinn nicht trog und er sie auf frischer Tat überraschte ... Er könnte sich ein für allemal reinwaschen.

Und so geschah es.

Als er die Tür aufriß, sah er Clara über die Couch gebeugt, halb auf den Knien, im Nachthemd. Nur das Licht der Stehlampe in der Sesselecke funzelte. Dennoch war alles klar zu erkennen. Mit beiden Händen wühlte sie soeben in der Umhängetasche, in der die Mutter Papiere des täglichen Bedarfs aufbewahrte, ihren Personalausweis, Straßenbahnfahrkarten, ein Schlüsselbund, auch sonst eine Menge Krimskrams und - ihr Portemonnaie aus rotem Rindsleder.

»Ich hab dich erwischt«, schrie er. »Du gemeines Biest, du Diebin!«

O, jetzt konnte er wieder einmal Gerechtigkeit üben. Er stürzte auf sie zu und versetzte ihr links und rechts Ohrfeigen.

Sie heulte, stotterte irgend etwas vor sich hin, wimmerte, bat ihn, halb erstickt unter Tränen, sie nicht zu verraten. Sie erschien ihm in diesem Zustand noch häßlicher als sonst. Er schlug ihr nochmals ins sommersprossige Gesicht und vernahm nur die Worte: »Bitte, bitte, wecke sie nicht. Sie will ihre Ruhe haben. Wir sollen sie nicht stören ...«

»Das könnte dir so passen ...«

Nein, diesen Gefallen würde er seiner Schwester niemals tun. Denn was für eine einmalige Gelegenheit bot sich ihm da, der Mutter zu beweisen, daß nicht er der ständige Sündenbock sei, sondern dieses ihm stets vorgezogene, mit Lobsprüchen noch bis vor kurzem überhäufte Töchterchen.

Er klopfte an die Tür des Schlafzimmers.

»Mama! Mama!«

Nichts aber rührte sich.

»Mama! Wach auf! Mir tut es leid, aber ich muß dich stören ...«

Er erhielt keine Antwort.

Das Schlafzimmer, so hatten es die Eltern bestimmt, war ein Bereich, den sowohl er als auch Clara nur mit ihrer Erlaubnis betreten durften. Nicht selten kam es auch vor, besonders in letzter Zeit, daß sich die Mutter, sobald sie sich unwohl fühlte, darin einschloß.

Robert zögerte einen Moment. Dann aber drückte er die Klinke nieder, sie gab nach. Endlich sollte die Mutter die Wahrheit erfahren, wissen, wer sie bestahl.

Er schaltete das Licht an.

Da sah er sie liegen. Auf ihrer Seite in den Ehebetten. So ungemein friedlich, wie es schien. Bis ans Kinn gezogen die Decke. Mit geschlossenen Augen. Doch verfallen, zusammengeschrumpft der Mund, ein wenig zwar geöffnet, aber mit ganz schmalen Lippen.

Er trat näher. Er vernahm keinen Atemzug an ihr.

Bleiern senkte sich etwas in ihn hinab. Yesterday, I Want to Hold Your Hand ... Es dröhnte in seinem Kopf. Jetzt sah er es deutlicher: Der Anblick seiner Mutter war so unnatürlich, daß es ihm ein Frösteln einjagte und seine Gedanken sich verwirrten.

Von einer unbestimmten Furcht gepackt, wagte er dennoch, sie anzurühren. Er versuchte, sie wachzurütteln, nur zaghaft, ängstlich.

Unter der Bettdecke glitt ein Arm hervor. Die Hand mit dem Ehering. Schlaff hing sie herunter.

Auf dem Nachtschrank stand ein Glas mit Wasser, in dem ihre Zahnprothese schwamm.

Daneben lag ein Blatt Papier, willkürlich mit Druckbuchstaben aus Schlagzeilen von Zeitungen beklebt: SeHR geEhrTe FraU LuTteR ...

Er kannte den Text. Er war sein Werk, und er riß den Zettel an sich. Der Brief hatte sie doch nur warnen sollen, und niemals hatte er daran gedacht, daß sie sich deswegen ...

Wie im Traum, benommen vor Schreck, gewahrte er noch auf dem Bettvorleger ein zweites Glas. Es lag dort umgekippt und leer.

Er rannte zurück in den Korridor. »Clara! Clara ... Die Mama!«

Seine Schwester hockte nach wie vor winselnd in irgendeiner Ecke.

Ihn aber erfüllte nur noch Entsetzen, und nichts von alledem, was er jetzt tat, drang in sein Bewußtsein. Zwar begriff er, die Mutter war tot, doch er wollte sie immer noch retten, die Mutter, mit ihrer ... Trotz allem ... Mit ihrer großen Liebe zu ihm, ohne die er verloren sein würde ...

Er lief ins Treppenhaus, klingelte bei den Nachbarn, hielt den Finger auf dem Knopf, bis ihm aufgetan wurde.

»Tante Gisela! Tante Gisela! Ich glaube ... Es ist ...« Er würgte an jedem Wort.

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