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Es war ein ungewöhnlich sonniger Frühlingstag. Die Backsteinmauern und die schmutzigen bleigefaßten Fenster der Werkhallen lagen von gleißendem, wärmendem Licht überflutet, als seien sie südliche Weinhänge. Auf dem Fabrikhof verdampften die Pfützen, die eine Regenhusche in die Riefen zwischen den Pflastersteinen gestreuselt hatte. Auf der Straße hatten die Bäume an alle Zweige zartgrüne Wimpelketten gesetzt. Die Arbeiter, die nach dem Schichtwechsel dem Werktor enteilten, knöpften die Joppen auf und schoben die Mützen ins Genick.
Karl Greiner trank die flirrende Luft in vollen, genießerischen Zügen. Sie schmeckte nach Ackererde, sie hatte den Geruch der Flußniederungen. Als er an den Haltestellen die Menschen sich in die Straßenbahnen drängen sah, entschied er sich, den Weg nach Hause zu gehen. Er floh die wildbewegte, tosende Ausfallstraße, die die Bezirkshauptstadt mit den benachbarten Chemiebetrieben und den Braunkohlengruben des Geiseltals verbindet. Zu beiden Seiten der Straßenbahnschienen schoben sich die Lastwagen und Personenautos aneinander vorbei, bremsten scharf, hupten ärgerlich und ratterten davon. In den tausend Scheiben, im Chrom und Lack der hin und her flitzenden Fahrzeuge schien die Sonne wider. Über den Dächern segelten schmutziggraue Wölkchen in die blaue Weite des Himmels.
Karl Greiner bog von einer Straße in die andere ein. Er floh den lärmenden Verkehr der Nord-Süd-Achse. In den stilleren Seitenstraßen drückte die Wärme die Rauchfähnchen spärlich geheizter Öfen auf die Bürgersteige. Aus geöffneten Fenstern drang Radiomusik. Die Katzen schrien.
Kaum hatte der Schlosser die Kiespfade eines erst vorjährig angepflanzten Parks betreten, sah er eine Frau auf sich zukommen. Ein enggeschnittener Mantel verdeckte ihre Waden. Er wich ihr aus. Sie trug eine Kollegtasche unter dem Arm, vielleicht studierte sie an der hiesigen Universität. Hinter der nächsten Wegkrümmung verharrte Greiner und blickte der Unbekannten nach. Selten sah er jemandem nach. Sie ging hoch aufgerichtet und abweisend.
Nicht öfter als drei-, viermal hatte Greiner Mädchen besessen, allerdings niemals nur einen Tag, aber auch nie länger als einige Monate. Stets hatte er mehr erwartet, stets hatte er weniger gefunden. Aus Liebeleien machte er sich nichts, Weibergeschichten verabscheute er. Die Frauen waren ihm davongelaufen, nicht er den Frauen. Wenn die Mutter ihm sagte: Junge, es wird Zeit mit deinen fünfundzwanzig Jahren, winkte er ab und machte den Ehestand lächerlich, darauf bedacht, heiklen Gesprächen zu entgehen.
Jetzt ertappte er sich dabei, daß er schon mehrmals an die Unbekannte gedacht hatte: über der Erbsensuppe, die die Familie schweigend löffelte; als er den Kalk einrührte, um mit dem Vater wie in jedem Frühjahr den niedrigen, muffigen Korridor zu weißen; abends, während der Verschnaufpausen zwischen den Übungen an den Turngeräten. Er versuchte, sich der Züge des Mädchens zu erinnern. Es gelang ihm nicht. Er sah die Blässe des fremden Gesichts, einen auffallend roten Mund, der traurig wirkte. Er wußte, daß die Unbekannte Schuhe mit flachen Absätzen getragen hatte, doch hatte sich ihr Gang in sein Gedächtnis eingeprägt, als sei sie auf hochhackigen Pumps geschritten, die er nicht leiden mochte. Es hatte keinen Zweck, ihrem Erscheinen nachzusinnen. Als er hinter den Büschen gestanden, war sie plötzlich seinen Blicken entschwunden. Die Mauer, die den Park begrenzte, hatte sie verschluckt.
Karl Greiner riß sich von der Begegnung los. Gewaltsam sperrte er das Mädchen aus seinen Träumen aus.
Die Tage verstrichen. Der Wind fegte den Himmel blank. Die Sonne hatte den Sand des Winterschlafs aus den Augen gerieben. Die Krokusse stachen weiß und violett die Erde auf. Die Spatzen zankten und lüfteten ihren Federpelz. Auf den Straßen wirbelten die Autos Staub auf. Karl Greiner sehnte sich, das Mädchen wiederzusehen.
Wieder ging er die Straßen entlang, die ihn aus dem Trubel des Verkehrs hinausführten. Hinter den Fenstern der Kesselschmiede dröhnten die Preßlufthämmer und zuckten die blauen Flammen der Schweißbrenner. Die Lagerplätze der Fabrik lagen öde und verlassen, unter Teerpappdächern war Holz gestapelt, Berge verrosteten Schrotts warteten jahrelang auf die Einschmelze, Quecken rankten vergilbt um die Eisenteile. Greiner beschleunigte seine Schritte, ungeduldig strebte er dem Park zu. Er hoffte, die Unbekannte ein zweites Mal zu treffen, hoffte, daß sie damals den Weg nicht wie er zufällig gegangen. Das mit den verwitterten Schrotthaufen mußte die Gewerkschaft erfahren, dachte er zwischendurch, spare mit jedem Gramm... Dann wieder bemächtigte sich seiner eine ungewöhnlich hellhörige Aufmerksamkeit, die nur auf die Begegnung gerichtet war. Er schaute in alle Häuserwinkel hinein, er musterte jeden Fußgänger, den er irgendwo auftauchen sah. Manchmal begann sein Herz schneller zu klopfen, wenn er eine Frau gewahrte, an der ihn von weitem irgendeine Kleinigkeit, die Farbe des Mantels vielleicht oder die Art, die Tasche zu halten, an die Fremde erinnerte. Auf gleiche Weise hatte er sich in den letzten Tagen schon des öfteren narren lassen.
Beinahe wären die beiden aufeinandergeprallt. Als Greiner um die Mauer bog, die den Park auf der einen Seite von den Hinterhöfen der angrenzenden Mietshäuser trennte, stand das Mädchen vor ihm. Es hielt erschrocken inne und sah dem Arbeiter groß in die Augen. Er merkte, wie es seine Blicke über ihn hinweggleiten ließ. Er fühlte sich gemustert und errötete. Er glaubte nicht anders, als daß die Unbekannte seine Gedanken erriete, als daß sie den Grund seiner Anwesenheit erahnte.
Sie lachte. Silbern. Ein wenig zu schrill.
Greiner hatte sich das Wiedersehen völlig anders ausgemalt. Er hatte seine Schritte verlangsamen wollen, sobald er sie entdeckte. Ihre Gestalt wollte er abforschen, ihr Gesicht, ihre Haare, ihren Mund... Jetzt verwirrte ihn ihre Nähe, und er senkte den Kopf und eilte von dannen. Als er sich nach ihr umdrehte, fand er sie nicht mehr.
Aber er war froh. Er hatte sie wiedergetroffen. Er würde ihr wieder und wieder begegnen, täglich in diesem Park, der noch vor kurzem eine Trümmerstätte zerbombter Häuser gewesen war, den man angelegt hatte, um die Toten zu vergessen, die unter ihm lagen. Das schöne Mädchen hatte ihm zugelacht, seine Stimme klang ihm in den Ohren nach. Sie waren nicht nur aneinander vorbeigelaufen, sie besaßen ab heute eine Gemeinsamkeit. Das halb erschrockene, halb belustigte Lachen der schwarzhaarigen Fremden hatte allein ihrer plötzlichen Begegnung gegolten. Außer ihm hatte es niemand gehört. Oder hatte sie über sein törichtes Benehmen gelacht? Darüber, daß er über und über rot geworden war?
Karl Greiner wollte mit sich allein sein. Noch einmal wollte er in Ruhe das Wiedersehen auskosten. Es verlangte ihn nicht, schon die elterliche Wohnung aufzusuchen. Er eilte an die Ufer des Flusses, die mit Bäumen dicht bestanden waren. Am Wasser, auf dem glatten Stamm einer vornübergestürzten Trauerweide, die irgendwann einmal ein Sturm oder das Hochwasser halb entwurzelt hatte, ließ er sich nieder. Ihre dünnen Zweige hingen bis tief über den Wellen. Unter jeder Bewegung seines wuchtigen Körpers schwankte die Krone und kämmte mit ihren Fäden den Fluß. Karl Greiner griff nach der Tabaksbüchse, legte sie geöffnet auf seine Knie und drehte sich eine Zigarette. Der blaue Rauch behängte das Gestrüpp der Weide mit einem zarten Schleier. Greiners Gedanken begleiteten die Frau. Er liebte.
Erst am Abend kam er nach Hause. Die Mutter hatte sein Essen warm zu halten versucht, hatte es in einen Topf geschüttet und ihn in eine zerschlissene Wolldecke gewickelt. Die alte Frau machte ihm wegen des Ausbleibens Vorwürfe. Greiner nahm sie in die Arme und wirbelte mit ihr durch die Küche, daß das Geschirr in den Schränken klappernd mittanzte.