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Später dann, nach der bösen Geschichte, die sein Sohn sich eingebrockt hatte, glaubte ich oft, man brauche dem Jungen nur wie vorher dem Alten zu kommen. Wenn wir ihn für uns gewönnen, dachte ich, wird Ordnung in die Schule einziehen. Ein Dickschädel wie sein Vater. Und vielleicht hatten ihn nur die Lehrer nicht richtig angefaßt. Auch er war der Wortführer seiner Klasse. Intelligent wie Einstein. Auch auf ihn schworen die Mitschüler. Außer in Mathematik, Physik und Chemie störte er jeden Unterricht. In Staatsbürgerkunde fragte er, ob Marx nicht nur ein Phantast gewesen sei, ähnlich wie Christus, in den Deutschstunden, warum nicht dieses oder jenes moderne Stück westlicher Autoren auf dem Lehrplan stünde. Er zitierte, ohne darum gebeten worden zu sein, ganze Passagen aus Dürrenmatts »Physikern«, das Buch hatte er der Bibliothek seines Vaters entnommen. Goethe hinge ihm schon zum Halse heraus, sagte er, und immerzu sozialistischer Realismus, das wär auf die Dauer langweilig. Koblenz zuckte dazu mit den Schultern. »Ich möchte auch nicht nur immer Kasernen bauen.« Ich hatte ihn angeschrien. Mir gehen selten die Nerven durch. An diesem Tage jedoch war es geschehen. »Ihre Arroganz«, schrie ich, »stinkt zum Himmel. Und soweit sie Ihren Sohn betrifft, gleicht sie einer fahrlässigen Tötung.« Doch was dachte er jetzt? Er saß noch immer still und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf Konz. Vielleicht dachte er nur, was gestern auch ich noch gedacht hatte. Kommst hier hereingeschneit, Konz, wie Habakuk unter die Löwen.
Gerhard, sein Sohn, las also Dürrenmatt. Die Physiker, sagte er, die entsprächen schon vom Titel her seinem Geschmack, kein schnulziges Drumherum von wegen Herz und so, ohne Sentimentalität. Außerdem stünd es dort pari pari, Physik bleibt Physik, ob Atom von den Russen oder Atom von den Amerikanern, a verhält sich zu a wie a. Abends spielte er Jazz. Und als der Beat aufkam, gründete er an der Schule sogleich eine diesbezügliche Kapelle. Sie trafen sich in einem abgelegenen Keller, den sie ausgebaut hatten. Die Entwürfe stammten von Gerhard. An die Wände hängten sie Bilder von langhaarigen Sängerknaben, pausbäckigen, Trompete blasenden Negern und leichtbekleideten Damen, Bibelsprüche, gemischt mit Zitaten von Politikern aus aller Herren Länder, wobei eins dem anderen widersprach, Kennedy aber in Mehrheit vertreten war, und Verkehrsschilder, die sie von den Straßen montiert hatten und denen sie eine mehr flach- als tiefsinnige Bedeutung gaben. Mitten in einer Kollektion von entblößten Frauen hing das Schild:
Achtung! Mehrere Kurven. Zwischen zwei Illustriertenfotos, deren eines ein ausgebranntes Personenauto mit verkohlten, verstümmelten Leichen darin und deren anderes einen amerikanischen Soldaten zeigte, der einem zu Tode gefolterten Vietnamesen den Stiefel in den Nacken stellte, ein Stoppschild mit darübergeklebter Aufschrift: Du sollst nicht töten ... Als wir damals die Räume betraten, schritten wir zunächst durch mehrere schwarze Vorhänge. Mir war verdammt makaber zumute. Ich fragte mich: Bist du inzwischen zu alt, zu verkalkt, daß du die Scherze der Jugend nicht mehr verstehst? Welchen Unsinn haben wir in diesem Alter getrieben? Achtzehn, da verkrochen wir uns ebenfalls heimlich in Keller und lasen Majakowski und Gorki. Koblenz aber sagte: »Gut, die Nackedeis an den Wänden müssen nicht sein. Doch sehen Sie hier, die beiden Bilder mit den entsetzlichen Leichen. Die Jungs haben auf ihre Art Ideale ...«