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Erstarrendes Meer. Eine Erzählung über Georg Friedrich Händels letzten Aufenthalt in Halle von Albrecht Franke
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
07.02.2016
ISBN:
978-3-95655-606-7 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 127 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Biografisch, Belletristik/Geschichte
Biografischer Roman, Historischer Roman, 18. Jahrhundert (1700 bis 1799 n. Chr.), Sachsen-Anhalt
Georg Friedrich Händel, Johann Sebastian Bach, London, Halle, Musiker, Biografie, Krankheit, Familie
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Das zwanghaft gewordene Bedürfnis nach Tätigkeit war von ihm abgefallen. Der Arzt sah zweimal am Tage nach ihm, die schattenhafte Nonne brachte das Essen und den verdünnten Wein, rieb seine Arme und Hände mit einer grünen Flüssigkeit ein. Nie sprach sie ein Wort. Zum ersten Mal in seinem Leben begegnete er so konsequentem Schweigen. Zuerst gelang es ihm, es als angenehm zu empfinden. Die einsetzende Besserung bewirkte allerdings, dass seine Stimmung umschlug. Er wurde gesprächig, verlangte nach Neuigkeiten und etwas stärkeren Getränken. Die alte Ungeduld ergriff ihn wieder, er schnauzte der Nonne hinterher, er habe genug vom Dasein eines Kranken und Bettlägerigen. Für den Rest der Heilung wollte er wie immer allein sorgen. Stundenlang übte er die Fingerbewegungen seiner Klavierkompositionen, erfand Improvisationen dazu. Auf diese Weise hatte er schon vor Jahren seine Gliedmaßen wieder in Bewegung gebracht, die nach einem Schlaganfall eingeschlafen waren. Diesmal war es ihm sogar leichter geworden, denn er lag in einem einigermaßen bequemen Bett und nicht wie damals in heißem, faulig riechendem Heilquellenwasser.

Vor der Abreise bearbeitete ich schon wieder die jämmerliche Orgel in der Kapelle des Spitals. Es gelang, als wäre ich niemals krank gewesen. Der Chirurgus rief, es sei fast an eine Wunderheilung zu glauben, schließlich habe man mich mehr tot als lebendig gebracht. Wie ein Auferstandener fühlte ich mich nicht. Ich war ein weiteres Mal davongekommen. Dankbar kann ich nur noch sein, wenn sich meine Sehkraft bessert oder wenigstens nicht verschlechtert. Bis zum Abschied überlegte ich, ob ich dem Chirurgus von meinen Augenbeschwerden erzählen, meine Ängste schildern sollte. Aber ich fürchtete ein endgültiges Urteil. Ich hätte nicht weiterreisen können. Ich wäre wieder eingesperrt worden. Doch ich wollte das Gefühl der Befreiung aus einer Starre auskosten, noch mein eigener Herr sein.

Solche vergangenen Szenen sah Händel deutlich. Er konnte sie auch hören. Wörtlich hatten sich ihm die Gesundheits- und Segenswünsche des Arztes eingeprägt, die ihn rührten, obwohl er wusste, dass sie nach dem fürstlichen Honorar, das er gezahlt hatte, einfach zum Abschluss der Behandlung gehörten. Er roch jetzt im Herbergszimmer auch die warme Luft jenes Tages, die, mit einer winzigen Beimengung Herbstgeruchs Freiheit zu verheißen schien. Er machte seine sechs Schritte, als ginge er auf den offenen Wagenschlag zu, vor dem sich der Fuhrmann verbeugte. An der Wand zuckte er zurück, wie er vor dem Mann zurückgezuckt war. Als wäre die Zeit nicht weitergegangen, meinte er, wieder den Kerl vor sich zu haben, der ihn vermittels seiner Kutscherkünste in das erinnerungslose Dunkel gestürzt hatte. Er war in der Zuversicht eingestiegen, dass ein zweiter Unfall wenig wahrscheinlich sei, eine Londoner Gazette hatte kürzlich ausgerechnet, dass man einem tollwütigen Hund höchstens einmal im Jahr begegne. Dann, im Wagen, beruhigte er sich mit der Vermutung, dass ihm seine Augen einen Streich gespielt hätten. Während einer Rast in einer Poststation machte ihm der Kutscher in seinem Kauderwelsch allerdings deutlich, dass er der Bruder des Unglücksfuhrmanns sei. Der säße wegen des vernichteten Wagens immer noch im Gefängnis und sei obendrein gepeitscht worden. Händel bot sofort Geld für eine Kaution an. Das begriff der Mann nicht. Es war ihm zum Schluss nichts anderes übriggeblieben, als den Beutel wieder wegzustecken. Er erinnerte sich, dass er später, wieder unterwegs, auch gelangweilt von der eintönigen Landschaft, froh darüber gewesen war, kein Mitleid mehr zu empfinden. Er hatte sich sogar gesagt, dass er in seinem Leben ebenfalls für alles einzustehen gezwungen wäre. Für alles. Ohne Gnade. Warum soll ich mein Geld für einen toll gewordenen Knecht zum Fenster hinauswerfen, hatte er sich kopfschüttelnd gefragt.

Mich jedoch hat noch niemand mit dem Ochsenziemer bearbeitet. Ich muss mich auf der Rückreise um den armen Teufel kümmern.

 

Erstarrendes Meer. Eine Erzählung über Georg Friedrich Händels letzten Aufenthalt in Halle von Albrecht Franke: TextAuszug