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Zwei Monate fehlten noch bis zu seinem siebzehnten Geburtstag, als Nero (3768) zum römischen Kaiser ausgerufen wurde. Die Fäden hielt seine Mutter fest in der Hand. Agrippina hatte nicht mehr warten können, bis Claudius von allein starb: Narcissus machte sie bei dem alten Trunkenbold schlecht. Am 13. Oktober 54 war der wachsame Freigelassene auf Reisen. Die Pilzmahlzeit, die dem Kaiser vorgesetzt wurde, war einwandfrei. Er vertrug aber Pilze nicht sonderlich gut, sosehr er sie mochte. Als ihm übel wurde, kitzelte ihn sein Arzt mit einer Feder im Hals, die in Gift getaucht worden war. Die Rezeptur kam von der alten Locusta, der Heuschrecke, die in der Subura, dem schmutzigen winkligen Armenviertel Roms, unter der Aufsicht eines Prätorianertribunen ihr verborgenes Leben führte. Die Zuverlässigkeit ihrer Giftmischerei wurde in der kaiserlichen Familie geschätzt und schützte sie vor Strafe. Wahrscheinlich hatte sich Agrippina ihrer schon einmal bedient. Nach dem Tod ihres ersten Mannes war sie eine Vernunftehe mit Crispus Passienus eingegangen, der sterben musste, als die Hinrichtung Messalinas Kaiser Claudius zur besten Partie von Rom machte. Durch Senatsbeschluss erhielt Claudius göttliche Ehren. Ein ansehnlicher Tempel wurde dem neuen Gott errichtet, ein Priesterkollegium gestiftet. Oberpriesterin war Agrippina.
An der Spitze der tüchtigen Männer, die sie zu Lehrern ihres vielversprechenden Sohnes bestellte, stand der Philosoph Seneca. Ihn hatte sie eigens aus der korsischen Verbannung zurückrufen lassen. Seneca schrieb für seinen Zögling eine Art Handbuch für einen Herrscher: Über die Milde. Der Gardepräfekt Afranius Burrus überwachte Neros militärische Ausbildung. Wahrscheinlich befand sich auch der Dichter Petronius im Kreis der Erzieher, der dann als Berater in Fragen des feinen Geschmacks in Erscheinung trat und für die künstlerischen Neigungen und die Vergnügungen des jungen Kaisers zuständig war. Ein Freigelassener namens Anicetus gehörte noch dazu. Er übernahm bald eine schmutzige Rolle.
Nero zeigte sich gelehrig, großzügig, leutselig. Die Sympathien der Römer flogen ihm zu. Besonders die Herzen der Künstler schlugen für ihn, denn er machte selbst Gedichte und ließ sie nicht lange in der Schublade. Denunzianten wurden nicht mehr angehört, sondern bestraft. Als Nero die Todesurteile über zwei Raubmörder unterzeichnen sollte, seufzte er: Hätte ich doch niemals schreiben gelernt! Aber diese Nachsicht für Verbrecher klang bald zweideutig. Schon einmal hatte wenig Segen darauf gelegen, dass eine Mutter ihren Sohn zum Kaiser machte. Tiberius war ein reifer Mann und Livia eine Greisin gewesen; da ließ sich Zwist mit Mäßigung austragen. Zwischen dem Jüngling Nero und der noch jungen, schönen Agrippina, die ein Verhältnis mit dem Freigelassenen Pallas unterhielt, kam es zu geschmacklosen Auftritten, als die Kaiserin die Fäden der Macht nicht aus der Hand geben wollte. Sie drohte unverhohlen, Britannicus, Sohn des Claudius und der Messalina, habe ebenfalls Anspruch auf die Kaiserwürde.
Da versicherte sich Nero der alten Locusta. Giftmorde hatten seit Tiberius, Livia und Sejanus ihre Hindernisse: In der kaiserlichen Familie nahm man regelmäßig Theriak, ein Mittel aus angeblich hundert Zutaten, das vor den gefährlichsten Giften schützte. Unter Caligula hatte es den Kopf gekostet, wenn der Mund beim Begrüßungskuss nach einem Gegengift roch. Das bedeutete Misstrauen. Jetzt drückte jeder über den anderen ein Auge zu. Britannicus jedoch, arglos und verträumt, nahm kein Theriak. Agrippina verordnete ihm einen Vorkoster. Aber man umging ihn. Den vorgekosteten Punsch fand Britannicus zu heiß, so dass er nach kaltem Wasser verlangte. Darin war das Gift. Er fiel sofort tot um.
Seneca und Burrus fanden die Beseitigung dieses Rivalen und die Kaltstellung Agrippinas politisch notwendig. Es ging nicht an, dass ein Weib Rom regierte. Nero sah das Gerangel nicht ungern. Die mütterlichen Ermahnungen waren ihm längst lästig. Er gab beiden Seiten recht oder keiner, damit sich die Risse vertieften. So hielt er es auch, wenn seine Berater Meinungsverschiedenheiten austrugen, um plötzlich mit der Faust auf den Tisch zu hauen und klarzustellen, wer der Kaiser sei. Ausleben wollte er sich.
Der Palatin entfaltete einen nie gekannten Luxus. Erstmalig gab es im Sommer Eisgetränke. Dichterlinge, mittelmäßige Schauspieler und Tänzer drängten sich zwischen Nero und seine Berater. Sie geizten nicht wie Seneca und Petronius mit Lobsprüchen. Mit einigen knüpfte er homoerotische Verhältnisse an, sowohl als Pathicus als auch als Pedico. Nachts schwärmte er verkleidet und maskiert mit Saufkumpanen durch Theater, Kneipen und Bordelle. Das gehörte für ihn ebenso zum Künstlerleben wie zum Gebaren eines Volksfreundes. Läden wurden geplündert, Frauen vergewaltigt. Nero schändete eine Vestalin namens Rubria. Nach dem Gesetz hätte ihn dafür der Henker zu Tode peitschen müssen. Aber der randalierende Kaiser hatte immer Leibwächter in der Nähe. Nur einmal gelang es einem beherzten Bürger, ihn durchzuprügeln und unerkannt zu entwischen. Vielleicht hatten ihn seine ehemaligen Erzieher geschickt und gehofft, der Denkzettel werde wirken.
Hinter solchen Nachtschwärmereien steckte Langeweile. Nero und die unscheinbare, zierliche Octavia, die Tochter des Claudius, waren als halbe Kinder verheiratet worden. Für die brutalen Liebesspiele, die Nero mit Leidenschaft verwechselte, hatte Octavia nichts übrig. Wahrscheinlich verweigerte sie sich oft. Die Ehe blieb kinderlos. Die enttäuschten Römer machten aus Octavia bald ein Idol standhafter Sittenreinheit.
Um den Lümmel zu Hause zu halten, führten ihm seine Berater die unwiderstehliche Claudia Acte zu, eine Freigelassene des Claudius. Ihr verfiel Nero tatsächlich für einige Zeit, und sie hielt ihm bis zum Ende die Treue. Agrippina brachte kein Verständnis für solche Kompromisse auf und hielt zu Octavia. Ihre Eifersucht auf alle Frauen, mit denen Nero sich abgab, weckte bei Zeitgenossen den Verdacht, dass nicht nur Mutterliebe im Spiel war. Gerüchte über inzestuösen Verkehr zwischen Mutter und Sohn kamen auf. Man wollte an ihrer Kleidung, als sie aus der Sänfte stiegen, unzüchtige Spuren entdeckt haben. Nun begann ein Kesseltreiben gegen die herrische Frau, die kein Mittel gescheut hatte, ihren Sohn zum Kaiser zu machen. Ihre widernatürlichen Verführungskünste wurden als Versuch ausgelegt, Nero fester an sich zu binden und alle Fäden wieder in die Hand zu bekommen. Aber Nero quartierte sie aus dem Palatium aus und entzog ihr die germanische Leibwache. Eine so exponierte Frau wurde dadurch nahezu vogelfrei. Ihre Lage spitzte sich zu, als Nero unverhohlen um Poppaca Sabina warb, eine stadtbekannt schöne, aber spröde und stolze Frau, die Öl in das Feuer der mütterlichen Eifersucht goss.
Marcus Salvius Otho, ein bewährter Saufkumpan, der später kurze Zeit selbst den Kaiser spielen durfte, hatte sie Nero bekannt gemacht. Über die genaueren Umstände sind die Quellen sich nicht einig. Nach Poppaeas Scheidung von Rufrius Crispinus ist von einer Scheinehe mit Otho die Rede. Oder Nero eiferte Caligula nach und nahm einem Freund die soeben angetraute Gattin weg. Ehrgeizig und berechnend, machte Poppaea den entflammten Nero in langen Wechselbädern aus Willfährigkeit und Abweisung mürbe. Kaum glaubte er sich mit ihr einig, schickte er Otho als Statthalter weit fort in die Provinz Lusitanien, das heutige Portugal. Poppaea war mit einer Nebenrolle nicht zufrieden. Sie gab keine Ruhe, bis sie Agrippina und Octavia weggebissen hatte.