Specials
Firmenlogo
Verlag für E-Books (und Bücher), Handwerks- und Berufszeichen
Sie sind hier: Heinrich Mann – Leben, Werk, Wirken von Volker Ebersbach: TextAuszug
Heinrich Mann – Leben, Werk, Wirken von Volker Ebersbach
Format:

Klicken Sie auf das gewünschte Format, um den Titel in den Warenkorb zu legen.

Preis E-Book:
9.99 €
Veröffentl.:
30.08.2022
ISBN:
978-3-96521-622-8 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 977 Seiten
Kategorien:
Biografie & Autobiografie / Literatur, Biografie & Autobiografie / Historisch
Literarische Essays, Biografien: Literatur
Heinrich Mann, Thomas Mann, Golo Mann, Lübeck, München, Berlin, Untertan, Buddenbrocks, Biografie, 2. Weltkrieg, Faschismus, USA, Frankreich, Flucht, Kommunismus, Antifaschismus, Brecht, Johannes R. Becher, Rudolf Breitscheid, Sowjetunion, Tschechien, Ilja Ehrenburg, Lion Feuchtwanger
Zahlungspflichtig bestellen

Wenn sich Heinrich Mann in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg auch der Dramatik zuwandte, verband er damit nicht, wie mit seinen Romanen, den Anspruch, mit tiefgreifenden Neuerungen hervorzutreten. Die Dialogpartien seiner Prosa tendierten seit „lm Schlaraffenland“ stark zum Szenischen. Schon 1906 wurde ihm bewusst: … ich selbst wäre kaum imstande, dreihundert Seiten zu schreiben, wovon nicht reichlich zweihundert in Scenen wären. (1) So bedurfte es weniger Veränderungen, etwa der Verwandlung erzählender Partien in Regieanweisungen, um aus den drei in den Sammlungen „Die Bösen“ (1908) und „Das Herz“ (1910) erschienenen Novellen „Der Tyrann“, „Die Unschuldige“ und „Varieté“ einen Einakter zu machen, von denen letzterer zuerst 1910 bei Paul Cassirer erschien; 1918 kamen die „Drei Akte“ dann bei Kurt Wolff heraus. Auch die Novelle „Schauspielerin“ ging am 6. November 1911 mit leichtverändertem Inhalt als Drama in drei Akten über die Bühne des Berliner Theaters an der Königgrätzer Straße, mit Tilla Durieux in der Hauptrolle. 1912 schrieb Heinrich Mann das Drama in vier Akten „Die große Liebe“, das 1913 zur Uraufführung kam. Eine 1902 geschriebene Komödie mit dem Titel „Das Strumpfband“ blieb unveröffentlicht, bis sie 1965 der Henschelverlag Berlin herausbrachte.

Durch das Puppentheater und das Lübecker Stadttheater hatten sich für Heinrich Mann früh Beziehungen zur Bühne hergestellt. Er liebte den Umgang mit Schauspielern. Albert Steinrück gehörte zu seinen engsten Freunden. Angeregt durch das nahe Verhältnis zur Schwester Carla und unter dem Eindruck seiner Hauptdarstellerinnen Tilla Durieux und Ida Roland sah er im Schauspielerberuf einen besonders intensiven Ausdruck des Künstlerischen. (2) Immer wieder bezog er Erzählstoff aus der Lebenssphäre der Komödianten. Unter Schriftstellern, die ihm mehr oder weniger nahe Freunde waren, befanden sich so hervorragende Dramatiker wie Frank Wedekind, Arthur Schnitzler und Carl Sternheim. Das Theater war, um unbedenklich zu sprechen, mein lustigster Abschnitt. Die paar kräftigsten Jahre um die Mitte des Lebens genügten meinem Bedürfnis nach den dramaturgischen Strapazen. Andere, die immer Stücke schrieben, konnten nicht erraten, wie anziehend die Verschiedenheit der neuen Arbeit von meiner vorigen war. Theaterstücke werden schnell geschrieben. Verlangt wird Bewegung, die Leidenschaft soll unmittelbar handeln; sie wickelt sich nicht aus den Schleiern der Erzählung. Noch der lebendigste Roman spielt in der Vergangenheit und ist bekleidet mit Worten. Ein Drama kann niemals nackt genug sein. (3)

Die Theaterkritik reagierte jedoch vorwiegend abwartend, reserviert, sogar ablehnend. Alfred Kerr, der schon Thomas Manns „Fiorenza“ unbarmherzig auseinandergenommen hatte, mahnte: „In der Wahl zwischen den Brüdern wird niemand schwanken. Dennoch muss Heinrich Mann im Drama selbstständiger werden.“ (4) In den Einaktern zeigte sich ihm ein „andersblütiger Schnitzler; ein italianisierter Strindberg; ein vernördlichter d’Annunzio“ (5). Über „Die große Liebe“ fiel er vernichtend her: „Unsereins nähme gern einen Verkannten in Schutz. Doch ich fürchte, es gibt hier nichts zu verkennen. – Man erblickt, … was die Schmerzen eines Liebhabers erzeugen könnte: ohne dass diese Schmerzen herauskommen. (Ohne dass Schmerzen gleich tief gesehn wären wie längst von anderen.) – Oder man merkt, von welcher Umgebung in welche Umgebung eine Frau gleitet: ohne dass die Spur dieses Gleitens an ihr sonderlich herauskäme … Heinrich Mann wird sagen: Absicht. – Man könnte sonst auch vermuten, dass es nicht gekonnt ist.“ (6) Nach viel Anerkennung für „Schauspielerin“ gab Julius Bab zu bedenken: „Aber die Art und Weise, wie das alles geschieht, ist wiederum durchaus undramatisch und beweist, dass ein Künstler wie Heinrich Mann doch nicht ohne Not sein ganzes bisheriges Schaffen in die epische Form gepresst hat.“ (7) Und zu „Die große Liebe“ heißt es: „Eine seltsame Kette von Irrtümern musste geschehen, dass uns ein Dichter von dem schönen lebhaften, oft und offen bekannten Sozialgefühl Heinrich Manns … das jämmerlich gleichgültige Spiel der pflichtlosen Luxusexistenzen mit dem, was ihre Spielregel erlaubt oder unerlaubt nennt, uns als ,Drama‘, als Inbegriff menschlicher Kämpfe zumuten will.“ (8)

Im Roman „Zwischen den Rassen“ hatte die krisenhafte Umbruchsphase zwischen der Behauptung des Individualismus und der Verehrung der Demokratie in gestalterischen Schwächen ihre Spuren hinterlassen. Die Dramen, die Heinrich Mann bis zum ersten Weltkrieg schrieb, zeigen deutlich, wie empfindlich gerade das dramatische Genre reagiert, wenn die sozialen Aspekte der gesellschaftlichen Konflikte undeutlich bleiben. Aus seiner abstrakten, einseitig geistigen Beziehung zur Demokratie bezog der Dramatiker Heinrich Mann zu wenig konkrete sozialkritische Impulse als Gegengewicht zu den psychologischen Konflikten, um auch auf der Bühne die Überzeugungskraft der Lebensnähe zu erreichen, die sein Romanschaffen charakterisiert.

Ungleich erfolgreicher wurde „Madame Legros“, ein Drama in drei Akten um Geschehnisse am Vorabend der Französischen Revolution. 1913 erschien es gedruckt bei Cassirer, jedoch eine Uraufführung verzögerte sich infolge des Krieges, bis es am 19. Februar 1917 drei Theater zugleich brachten, Kammerspiele und Stadttheater in München und die Kammerspiele in Lübeck; ihnen folgte am 26. April 1917 das Berliner Lessingtheater. Den Stoff des Stückes, die Geschichte einer Kleinbürgerin, die, durch den Verlust ihres Kindes für Mitleidgefühle empfänglicher, von der jahrzehntelangen Haft eines Unschuldigen in der Bastille erfährt und alles unternimmt, um von den Herrschenden dessen Befreiung zu erwirken, bezog Heinrich Mann aus Michelets „Histoire de la révolution francaise“. Seinem Anliegen folgend, verlegte er jedoch die Vorgänge von 1784 auf 1789. So wird Heinrich Manns Madame Legros mit der Befreiung des Gefangenen Latude (9) zur Initiatorin einer Entwicklung, die sie selbst nie beabsichtigt hat und an der teilzunehmen sie sich strikt weigert. Sie hat Züge einer Jeanne d’Arc, die nach Erfüllung ihres Auftrages auf ihren Bauernhof zurück will, und entwickelt Zähigkeit und List der Leonore des „Fidelio“, wenngleich sie in ihrer humanitären Leidenschaft schwächer motiviert ist als die treue Gattin des Opernwerkes. (10) Ihre Aktion ist eine Tat des individuellen Gewissens, das den moralisch paralysierten Vertretern des sturmreifen Feudalabsolutismus gerade durch Ungewöhnlichkeit imponiert und ihr deshalb zum Erfolg verhilft. Das Unrecht jedoch, das dem einen Latude geschehen ist, multipliziert sich im Bewusstsein der Volksmassen zum Unrecht des Systems, an dem Madame Legros gar nicht rütteln möchte, und ihre Tat wird zum auslösenden Signal einer Massenaktion, von der sie sich fernhält, zur Initialzündung des Sturms auf die Bastille, der die welthistorische bürgerliche Revolution einleitet. Das scheinbar Absurde ist, dass Madame Legros in jeder Phase ihrer Entwicklung letztlich allein bleibt infolge der motivischen Verschränkung Individuum–Masse. Am Anfang steht sie als unverstandene Agitatorin ihren verängstigten oder korrumpierten, hoffnungslosen oder ungläubigen Mitbürgern gegenüber. Am Ende bleibt sie zu Hause, während alles auf die Straße geht. In der sich langweilenden, auf die Kurtisane der Tugend (11) als Sensation neugierigen Adelsgesellschaft, die über den tieferen Sinn ihrer humanen Botschaft ebenso ahnungslos bleibt und die revolutionären Unruhen ebenso wenig als ernste Bedrohung empfindet wie die Gesellschaft in Schnitzlers „Grünem Kakadu“, wird sie herumgezeigt wie das seltene Exemplar einer für ausgestorben geltenden Spezies. Auch sie selbst weiß nicht, an welchem Vulkan sie bohrt. Ihre Persönlichkeit ist auf eine eigenartig unwirkliche Mischung aus kleinbürgerlicher Gewissensnot, sokratischem Glauben, alle seien nur aus Irrtum böse (12), und christlicher Nächstenliebe zusammengedrängt. Sie selbst ermisst nicht den universalen Humanitätsanspruch, den Geist, die demokratische Bewegung hinter ihrer karitativen Einzelaktion. Die Wahl einer solchen Gestalt beleuchtet einmal mehr Unschärfen im politischen Bewusstsein Heinrich Manns am Vorabend des Weltkrieges. Krieg hält er für kaum wahrscheinlich (13), eine Revolution aber für notwendig, ohne jedoch Klarheit zu finden über die Rolle der Massen, die sie tragen werden.

Nicht zuletzt die desillusionierende Wirklichkeit einer im Krieg gegen ganz Europa untergehenden Monarchie sorgte für eine begeisterte Aufnahme des Stückes. Der Weltkrieg, der noch nicht der richtige war, bekam seine widerlichsten Züge, auch nach Mißerfolg sah er aus. Heimlich wurde er bereut … An einem Abend, ehe die Vorstellung begann, sagte eine Frau, die nicht das erste Mal hineinging: „Endlich kann man einander wieder in die Augen sehen.“ (14) Bei der Niederschrift des Dramas hatte Heinrich Mann die Heldin als erholsamen Gegenentwurf zum anstrengenden „Untertan“ empfunden: Es thut mir leid, dass ich nach Beendigung der Skizze Mme Legros verlassen und zu dem armseligen Diederich zurückkehren soll. (15) Die Kritik verhielt sich wohlwollender. Sogar Kerr hob hervor: „Das ist die Frau; das Kindhafte; kindhaft noch im Bemuttern; das Triebzähe; das Besessene, das auf den Zweck losgeht – ohne die Erdschwere von uns Mannsen, die wir energisch, aber dumm sind (während ein Frauensbild zwar dumm, aber höllisch g’scheit ist) – alles dies zusammen ist es, was dem Werk eine Linie der Anmut, Abgetrabtheiten zum Trotze, schenkt.“ (16) Skeptisch fragte allerdings nach der Prager Aufführung Robert Musil: „Leben also in der Welt mehrere Millionen Ungeheuer und nur eine Madame Legros? Da diese Frage kaum bejaht werden kann, ist gegen Madame Legros zu schließen, dass das Verhalten der Menschen weniger von ihrer Güte abhängt als von Umständen und dass man daher weniger die Güte in den Menschen zu wecken braucht als das Bedürfnis, die Umstände zu ändern.“ (17) Anerkennend äußerte sich trotz der zu dieser Zeit unüberbrückbaren Spannungen zwischen den Brüdern auch Thomas Mann, freilich mit Erwähnung eines dramatischen Gegenstückes, das ihn, ohne über fragmentarische Stadien hinauszugelangen, bis ins hohe Alter beschäftigen sollte: „Das Stück meines Bruders (ein Berliner Witzblatt nannte es ,Mme Engros’, von wegen der vielen Aufführungen) ist zweifellos ein starker Wurf. Die nationale Gegenprobe wäre etwa ein Luther-Drama, heute aufgeführt in Paris.“ (18)

Während der Probearbeiten zu „Die große Liebe“ hatte Heinrich Mann die 1886 geborene, aus einer Prager jüdischen Familie stammende Schauspielerin Maria Kanová (Kahn) kennengelernt. Nach der Heirat am 12. August 1914, in den ersten Kriegstagen, wurde in der Münchner Leopoldstraße eine Etagenwohnung mittleren Komforts eingerichtet. Reisen machte der Krieg vorerst unmöglich. Heinrich Mann wurde sesshaft. Woran sich kaum etwas änderte, war die mit hoher Produktivität verbundene disziplinierte Arbeitsweise. „Heinrich Mann lebte bis zu seiner Verheiratung sehr einsam. Er führte ein geradezu vorbildliches Dasein. Er arbeitete regelmäßig jeden Tag vier bis fünf Stunden, wenn Krankheit ihn nicht behinderte. Sein Manuskriptpapier, das ich bei ihm sah und das er nie wechselte – in kleinem Quartformat geschnitten –, bedeckte eine feine, zugespitzte Handschrift. Er war selten zufrieden, verbesserte und feilte viel.“ (19) 1916 wurde die Tochter Leonie geboren. Wie viel Lebensgefühl sprudelt ihm entgegen, und vormals waren es Momente des seinen! Die Geburt seines Kindes – er war fortgeschickt worden, erwartete die Entscheidung in einem Theater, das ihn sonst schon feucht und verstört gesehen hatte: diesmal sollten Erfolg oder Misserfolg gemacht sein aus seinem Fleisch und Blut. (20)

Heinrich Mann – Leben, Werk, Wirken von Volker Ebersbach: TextAuszug