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Zwei blutige Erlöser – Dionysos und Christus. Ein Essay von Volker Ebersbach
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Preis E-Book:
3.99 €
Veröffentl.:
14.03.2022
ISBN:
978-3-96521-638-9 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 44 Seiten
Kategorien:
Religion/Christliche Kirche/Geschichte, Religion/Christliche Theologie/Geschichte
Religionsphilosophie, Judentum, Christentum, Islam, Alte Religionen und Mythen
Religion, Christentum, Judentum, Götterglaube, AntikeDionysos, Jesus
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Dionysos ist anders als die anderen Halbgötter der antiken Traumwelten. Der Mythos, der die Söhne des Zeus mit Sterblichen bevorzugt, feiert Herakles und Perseus als Heroen der Tatkraft, als übermenschliche Helfer des schwachen Menschengeschlechts, Sinnbilder dessen, was Herrscher vor ihren Untertanen darzustellen versuchten, um Autorität zu erlangen. Ihre menschlichen Schwächen, vom Schicksal verhängt, haben etwas Rührendes; mit ihren Vorzügen ragen sie desto deutlicher über die Menschen heraus, denen sie als Vorbilder dienen.

Dionysos hat keine erzieherische Aufgabe. Er wirkt eher wie eine Verkörperung menschlicher Schwächen. Weich und versöhnlich, beinahe feminin, kommt er im Schwarm seines weiblichen Gefolges, der Mänaden oder Bacchantinnen, zu den Sterblichen, der animalischen Natur wie der Vegetation aufs engste verbunden. Wer sich ihm widersetzt, geht aber blutig zugrunde. Der göttliche Hüter des sorgenlösenden Rausches untergräbt jede auf Nüchternheit, Kraft und Kälte bauende Autorität, unterläuft alles, was nur der Ordnung dient, lässt die Vorbildlichen an ihrer eigenen Kälte grausam scheitern. Lykurg, der Willkürherrscher, der ihn jagt, tötet in der Verblendung des Jähzorns den eigenen Sohn. Pentheus, der intellektuelle Tyrann, der ihn verhöhnt, erscheint den Mänaden, unter ihnen die eigene Mutter Agaue, als Tier, das in Stücke gerissen wird.

Dionysos ist heiter, bedrohlich heiter und keineswegs lustig. Diese Heiterkeit straft mit Sarkasmus. Seine Rebranken umklammern den Schiffsmast, fesseln die Seeräuber, die ihn fangen wollten, und verwandeln sie in Delfine. Dem Theseus, der die Geliebte vergisst, Ariadne, seine Helferin gegen das Ungeheuer Minotauros, wird eben die Vergesslichkeit zur Schuld am Tod seines Vaters, und Dionysos ist sich nicht zu schade, die Verlassene zur Frau zu nehmen. Dionysos ist schon bei seiner Geburt Halbwaise: Semele, von der eifersüchtigen Hera in Gestalt eines alten Weibes misstrauisch gestimmt, will die wahre Gestalt des Liebhabers sehen, von dem sie schwanger ist, und verkohlt unter den Blitzen des Zeus, der die Leibesfrucht rettet und in seinem Schenkel austrägt. Die Geburt verläuft bluttriefend wie die „Kopfgeburt“ der Athene aus dem Haupt des Zeus, das Hermes bei Beginn der Wehen mit einem Beil spalten musste. Am Ende seines Erdenweges wird der Sohn des ranghöchsten Gottes, gesandt, um die Menschen von den Plagen des Erdenlebens zu erlösen, von den Titanen blutig in Stücke gerissen. Die Heiterkeit des Dionysos ist abgründig wie die pessimistische Weisheit des Silen, niemals geboren zu sein, sei das Beste.

Mehr als andere Göttersöhne ist Dionysos ein Mischwesen religiöser Vorstellungen und ihrer ethnischen Urprünge. In den Geschichten um den Schöpfer des Weins verbindet sich die harte, kriegerische, launische Götterwelt der vermutlich blonden dorischen Einwanderer aus dem Norden nicht nur mit den sinnenfrohen und toleranten Kulten der dunkelhaarigen mykenischen und minoischen Ureinwohner, sondern verflechten sich auch die Götterfamilien der Ägäis mit denen Vorderasiens. Mit Hesiod spricht eine sehr alte Überlieferung den olympischen Göttern blondes Haar und blaue Augen zu. Kadmos aber, der Vater der Semele, Großvater des Dionysos, stammt aus dem vorderasiatischen Phoinikien und ist semitischer Abkunft. Schon seiner irdischen Abstammung nach ist Dionysos ein antiker Kosmopolit, und mit seinen Wanderungen, bei denen er wie ein Missionar der Freude den Rebstock und die Kunst der Weinkelterei verbreitet, fuhrt er das Leben eines Kosmopoliten. In ihm zeichnet sich die vorgeschichtliche Mischung von Völkern und Kulturen im östlichen Mittelmeerraum nach, in seinen Reisen die frühgeschichtliche Kolonisierung Vorderasiens und der Mittelmeerküsten durch die Griechen, in deren Verlauf Sizilien und Unteritalien ein „Großgriechenland“ wurde, eine Art Amerika der Antike.

Zerrissen wie Dionysos selbst am Ende seines Erdendaseins sind auch die Quellen zu seinem Mythos. Hesiods „Theogonie“ streift den unsterblichen „goldgelockten“ Dionysos als Kind der sterblichen Semele und seine Ehe mit der gleichfalls „blonden“ Ariadne gleichsam in einem Ausblick. Drei der nicht von Homer selbst verfassten „homerischen“ Götterhymnen feiern ihn schon mit den bezeichnendsten Episoden seines Lebens. Doch Demeter, die reine Vegetationsgöttin von unvermischt göttlichem Geblüt, Hüterin des Ackerbaues, besonders des Getreides, überragt ihn mit einem Ehrenplatz in einer der großen Hymnen. Nur selten gelangt Dionysos unter die Hauptgestalten klassischer Dichtung. Die Epen Homers kennen ihn als Randfigur, die nie unmittelbar ins Geschehen tritt. Eine tragische Trilogie, in der Aischylos den Zusammenstoß des Weinbringers mit Lykurg behandelte, ist bis auf wenige Bruchstücke verloren. Neben ihnen stehen Fragmente einer „Semele“ und eines „Pentheus“, und aus den „Bakchen“ sind nur zwei Verse erhalten. Die „Bakchen“ des Euripides feiern den Sieg des Dionysos über Pentheus, der tragisch untergehen muss. Sonst findet sich nur verstreut Episodisches in Dramen und lyrischen Gedichten, in Ovids „Metamorphosen“, in gelehrten Hinweisen des Geschichtsschreibers Herodot oder der Philosophen Platon und Aristoteles, in den Sammlungen mythologischer Gelehrsamkeit, wie sie von Plutarch, Theophrast, Apollodor, Athenaios und Diodor überliefert sind.

Die einzige geschlossene Darstellung des Dionysos-Mythos ist zugleich seine späteste Ausformung. Ein letzter antiker Dichter ungewisser ethnischer Herkunft, Nonnos von Panopolis in Ägypten, über dessen Leben fast nichts bekannt ist, verfasste im 5. nachchristlichen Jahrhundert, während das bereits geteilte und christianisierte römische Reich überall aus den Fugen ging, die „Dionysiaka“, ein umfängliches Versepos von rund fünfundzwanzigtausend griechischen Hexametern in achtundvierzig Büchern. Die zu seiner Zeit weit über ein Jahrtausend zurückliegenden Heldenepen Homers dienten ihm als Vorbilder. Ihre dichterische Kraft erreichte er nicht. Die Widersprüche sind grell genug, wenn man frühere Überlieferungen zu Dionysos nebeneinanderstellt und aus ihren Splittern eine chronologisch überschaubare Fabel seines Erdenwandels zu gewinnen versucht. Zieht man das Werk des Nonnos hinzu, vervielfachen sie sich. Es scheint, als hätte Nonnos selbst am Ausgang der Antike, nach verheerenden Bibliotheksbränden und barbarischen Plünderungen, nichts Überzeugendes mehr vorgefunden. Seine Dichtung erschöpft sich über weite Strecken in aufgeblähter, überschwänglicher Rhetorik. Überladene Schilderungen, schwelgerisch wiederholte Einzelheiten, wortreiche Anrufungen, Klagen, Lobpreisungen, Drohungen, Beschwörungen verschütten den Strom des Erzählens. Eine innere Logik der Lebensstationen ist nicht zu erkennen.

Zwei blutige Erlöser – Dionysos und Christus. Ein Essay von Volker Ebersbach: TextAuszug