Home
eBook-Shop (nur Verlagstitel)
Links
Warenkorb
Wieder fahren wir auf Kassari, an Orjaku vorbei, heute liegt kein Segler im kleinen Hafen, der bronzene Leiger grüßt an der Wegkreuzung, und auf dem Parkplatz vor der Landzunge stehen zwei Reisebusse mit Tallinner Kennzeichen und der Meißener Hundefänger (Wir sind überall ...).
Toll, dann ist wohl heute nichts mit Weltende, Einsamkeit, nur das Rauschen des Meeres und so. Doch wir haben Glück. Wir sind noch nicht einmal ausgestiegen, da kommt eine schwatzende Touristengruppe um die Wegbiegung. Eine Staubwolke - und weg sind sie.
Dann, zwei Wegbiegungen weiter, treffen wir auf das Meißener Pärchen. Heute grüßen sie auf deutsch, wir grüßen auf deutsch. Alle grinsen, die Landzunge gehört uns!
Am Rand ein schmaler Trampelpfad, der durch den Wacholder führt. Hier geht es zu unserer Badestelle. Doch wir wollen weiter. Strandrosen blühen am Wegesrand. Ihre kleinen roten Blüten duften. Die Mädchen sind vorgelaufen, pflücken wilde Erdbeeren und Brombeeren, und Hannes läuft neben uns her, den Discman am Gürtel und die Kopfhörer in den Ohren. Ohne eine „Ärzte-CD“ kann man die Geräusche der Natur nicht ertragen! Na gut, waren wir mit 15 anders? Ich glaube nicht! Mein „Sonett“-Recorder war auch überall dabei. Nur war er viel schwerer und unhandlicher. Und bei mir tönte „Slade“ aus dem Lautsprecher. Die „Ärzte“ gab es noch gar nicht.
Die Wacholderbüsche weichen zurück. Niedrige Reetgrasinseln stehen am Ufer, Seegras hat sich an Steinen verfangen. Die Landzunge wird immer schmaler, ist noch zehn oder fünfzehn Meter breit. In der Mitte hat das Meer einen niedrigen Wall kleiner Steine angeschwemmt. Auf der Seite zum Land hin ist das Wasser ruhig und glatt wie ein Spiegel. Doch die Seeseite leckt an den Steinen, und der Wind zaust in den Haaren. Nur noch Geröll und Findlinge liegen hier. Jemand hat einen großen Berg Steine aufgetürmt. Wie ein vorgeschichtliches Mal wirkt er.
Valdur und Riina bleiben zurück. Die Kinder und wir wollen weiter zur Spitze. Stellenweise wird die Landzunge schon vom Meer verschlungen. Drei, vier Schritte noch - jetzt ist Schluss. Ich stehe auf einem glatten Stein. Das Wasser umspült meine Füße. Vor mir noch einige Findlinge, die halb aus dem Wasser ragen. Ein heller Streifen auf dem Grund, der sich im Blaugrau verliert. Hier hat Leiger verzagt. Hier war das Meer stärker als der Riese.
Und er hätte noch etliche Meter schaffen müssen, denn von Saaremaa ist nur ein feiner grüngrauer Pinselstrich im Graublau des Wasser zu erkennen.
Und der Himmel wirkt wieder so hoch und weit. So ganz anders als bei uns. Ich kann ihn nicht beschreiben, ich kann ihn nur mit den Augen erfühlen. Man muss ihn selber gesehen haben, um ihn zu begreifen.
Wie eine gigantische Peitschenschnur schlängelt sich die Landzunge zum Ufer hin. Die Insel ist ein grüner gezahnter Streifen, kein rotes Dach stört dies makellose Grün.
Unvorstellbar, wenn hier eine Bettenburg ihren grauen Quader in den Himmel strecken würde!
Erika kommt zu mir, und beide stehen wir wortlos auf dem Stein und genießen dieses Bild. Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass die Seele sich von der Freude und Schönheit nährt. Und in diesen Minuten spüre ich dies! Tief atme ich die salzige Luft ein.
Man fühlt sich so klein, wenn man das Meer sieht. Die Landzunge wirkt so zerbrechlich. Tief nehme ich dies Bild in mir auf. Doch wir müssen zurück zum Land. Die anderen warten.
Wir haben noch so viel Zeit! Also ab durch das Wacholdergebüsch, von den Mücken stechen lassen und noch ein Sonnenbad in unserer Bucht, bevor es heute Nachmittag zum Baron geht.
Tiina und Raivo haben eine Sehenswürdigkeit auf ihrem Grundstück! Und diese ist wirklich einmalig auf Hiiumaa - sagt jedenfalls Tiina. Und warum sollte sie lügen? Familie Kask besitzt ein „Sommerklo“, und zwar nicht ein ordinäres Plumpsklo, davon gibt es hier noch genug. Sie besitzt ein Doppelplumpsklo - eins mit zwei Löchern.
Ob der alte Kapitän, der Tiinas Haus in den Dreißigern baute, sich hier mit seinem Steuermann zu Beratungen zurückzog, oder ob er einfach nur ein geselliger Typ war, der auch bei der natürlichsten Sache der Welt Gesellschaft brauchte, ist nicht mehr feststellbar. Jedenfalls wurde das „Sommerdoppelplumpsklo“ nicht abgerissen, obwohl ja nun das Ganzjahresklo im Haus installiert wurde. Und irgendwie hat dieses Bretterhäuschen einen ganz besonderen Flair, den ich schon beim ersten Besuch 1992 der Insel (und des Herzchenhauses) feststellte. (Allerdings mag das im Winter anders sein!)
Nun, seitdem der sanitäre Fortschritt in das Kask’sche Haus eingezogen ist, wird der profane Ort für geistige Zwecke benutzt: Gestern zog Kristiina mit ihrer Pappschachtel voller Ü-Eierfiguren über den Hof in Richtung Sehenswürdigkeit. Nur dort kann sie ihre Schätze in Ruhe, und ohne permanente Tauschbitten und Befehle ihres Bruders, also Kaarel, betrachten.
Hannes flüchtet vor den Nachstellungen der kleinen Mädchen (von der hübschen Mari-Liis würde er sich sicher die Nachstellungen gefallen lassen) mit seiner „Gamestar“ auf den stillen Ort. Und ich schreibe momentan mein Reisetagebuch auf einem der geschlossenen Deckel sitzend.
Übrigens riechen richtig angelegte Plumpsklos nicht. Das weiß ich auch noch von den sommerlichen Besuchen bei meinen Großeltern in Crivitz. Trotzdem war ich als Schweriner Fastgroßstadtkind immer wieder entsetzt, dass es hier noch kein Wasserklo gab.
Heiß ist es heute Nachmittag. Es duftet nach Teer und getränktem Holz. Unsere beiden Sippen haben sich in die Veranda verzogen und spielen Dart. Dabei scheint es hoch her zugehen. Rike und Madli sind nicht zu überhören. Die beiden Katzenkinder spielen im hohen Gras unter den Obstbäumen. Sonst ist der Obstgarten hinter dem Haus verwaist. Nur Raivos Bienen sind geschäftig. Das Summen vom Bienenhaus ist bis hier zu hören. Und Erika auch. Denn sie ruft mich. Es ist Zeit, wir wollen nach Suuremöisa fahren. Nicht einmal hier hat man Ruhe!
Gemächlich trottet wieder die Kuhherde über die breite Straße. Gemächlich kauen Kuhmäuler, gemächlich werden Schwänze gehoben und das Asphaltgrau mit braungrünem Geklecker verziert. Es scheint so, die Kühe haben auf uns gewartet. Der gleiche Ort, die andere Zeit, als wir auf die Insel fuhren. Vom Cowboy wieder keine Spur. Auf Hiiumaa braucht man keine Hirten, die die Straße, besser die Kühe, sichern.
Valdur zieht die Schultern hoch: „Du musst noch viel lernen. Hier regt man sich über so etwas nicht auf.“
Er hat recht. Der Baron kann auf uns warten.
Kurz vor 16.00 Uhr Wir stehen auf der großen Freitreppe vor dem Schloss und warten auf die Führerin. Hinter uns liegt der noch heute beeindruckende spätbarocke Bau des Herrenhauses. Im 18. Jahrhundert zählte es zu den schönsten Schlössern Nordeuropas.
Das Hauptgebäude, in jeweils fünf Achsen geteilt und von einem Mittelrisalit unterbrochen, wird von zwei seitlichen Flügeln eingerahmt. Hell leuchtet der Putz in der Sonne und bildet einen schönen Kontrast zum Rot des Daches.
Aber das Sonnenlicht bringt auch zutage, dass hier noch viel passieren muss, damit das Schloss in altem Glanz erstrahlen kann. Dunkle Flächen zeigen Wasserschäden an, Putz hat sich gelöst. Aber die Renovierung hat begonnen. Eine Leiter steht vor dem Giebelauge. Einer der Nachkommen derer von Ungern-Sternberg hat Geld bereitgestellt, und so kann der Dachstuhl saniert werden.
Vor uns ein Rasenrondell mit Blumenrabatten, das von einem Kiesweg begrenzt wird. Dahinter eine weite Rasenfläche, dann beginnt der alte Park. Zwischen den großen Bäumen schimmern zwei der alten Teiche durch das Blattgrün. Sieben Teiche waren angelegt worden, um Karpfen, Forellen und Goldfische zu züchten.
Die alten Vasen und Statuen sind schon lange verschwunden. Die Mauer, die den Landschaftspark umgibt, ist brüchig geworden. Der Park soll früher vier Kilometer lang gewesen sein und ging bis an das Meer, auch die Mauer war so lang, wollten die Barone doch unter sich sein.
Trotzdem ist es vor vielen Jahren jemandem gelungen, die Mauer zu überwinden. Eine der Baronessen fand den Abdruck eines nackten Fußes auf einem der Sandwege.
Dies konnte nur ein Este gewesen sein! Denn wer lief sonst barfuß. Und sie ließ sofort den entweihten Park umgestalten! Aber dass „ihre“ Esten den Park angelegt hatten und pflegten - daran wird sie nicht gedacht haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mit einem Rechen ihre Wege geharkt hat! Die Führerin ist inzwischen gekommen und begrüßt uns und sechs oder sieben Leute. Mehr werden wohl auch nicht kommen - das Wetter ist zu schön.