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In einer Tageszeitung werden Beobachtungen auf einer Kunstausstellung mitgeteilt. Der Text ist mit einigen Repros dort gezeigter Werke versetzt, die wiederum werden kurz kommentiert. Unter dem Porträt eines älteren Mannes lese ich: Mit dem Bildnis Hellmuth Heinz würdigt der Dresdner Maler Erich Gerlach das Wirken des langjährigen Direktors vom Freitaler Heimatmuseum. In der aufrechten Haltung, dem offenen Gesicht mit den fest auf den Betrachter gerichteten Augen vermag der Künstler wichtige Charaktereigenschaften seines Gegenübers bildhaft zu machen.
Darüber die fotografische Wiedergabe einer Plastik, daneben die eines Gemäldes; hierzu folgende Bemerkung: Ihrem schlanken, weich modellierten Bronzeporträt Sabine verlieh die Bildhauerin Margret Middell einen Ausdruck von Würde und jugendlicher Schönheit. Im Arbeitsalltag eines Konfektionsbetriebes fand der Berliner Maler Harald Metzkes das Motiv für das Gemälde Näherinnen. Auch durch die warme tonige Farbigkeit vermag der Künstler viel von der Atmosphäre in der Produktionshalle, vom menschlichen Arbeitsklima sichtbar zu machen.
Ich weiß, ich sollte mich längst daran gewöhnt haben, dass es nicht immer so sein muss doch wenn ich etwas lese, gehe ich von der Annahme aus, dass es einen einleuchtenden Grund gibt, warum es geschrieben worden ist. Falls ich ihn nicht auf Anhieb finde, kapituliere ich nicht gleich, sondern bewege mich bis zu jenem Punkt zurück, da ich dem Verfasser noch zu folgen vermochte; anschließend laufe ich die gleiche Strecke noch mal ab, nun aber mit kleineren Schritten.
Ich sehe mir also das Bild jenes älteren Herrn an und überlege, welche Funktion der dazugehörige Kommentar haben mag. Der Maler wollte die gewiss erfolgreiche Tätigkeit dieses Mannes würdigen hm. Vielleicht, vielleicht auch nicht, man müsste den Maler fragen, doch wozu? Meine Haltung zu dem Werk würde sich durch eine solche Nachricht kaum verändern. Der Porträtierte sitzt aufrecht, schaut dem Betrachter entgegen, sieht nicht verschlossen aus (stimmt alles, sehe ich aber selber), und aus alldem folgt, dass er über wichtige (wahrscheinlich entsprechend positive) Eigenschaften verfügt. Nun, wohl nicht unbedingt. Der Zusammenhang zwischen Psyche und Physiognomie ist bekanntlich leider komplizierter. Was bewiese übrigens ein Bild, das einen gekrümmt sitzenden, verschlossen und am Betrachter vorbei blickenden Menschen zeigte? Doch nehmen wir an, alles verhält sich so, wie der Text behauptet. Dann erhebt sich die Frage, zu welchem Zweck mir das mitgeteilt wird. Ich habe darauf keine Antwort. Von der Information, dass dem bildenden Künstler Erich Gerlach ein mutmaßlich tüchtiger und sympathischer Mann Modell gestanden hat, vermag ich im Hinblick auf das Werk keinerlei Gebrauch zu machen.
Ähnlich geht es mir mit der Bemerkung zu der Plastik. Ihr Sinn ist mir unbegreiflich, enthält sie doch nur das, was ich ohnehin sehe. Und selbst wenn ich der etwas gewagten Schlussfolgerung zustimmen würde, dass mittels einer bestimmten Farbigkeit die Qualität des Arbeitsklimas in dieser Produktionshalle sichtbar gemacht werden könne, so verstehe ich noch lange nicht, was ich mit ihr anfangen soll. Ich verstehe das ebenso wenig, wie ich es verstünde, wenn mir jemand in Bezug auf ein Stillleben erklären würde, dass es den leckeren Geschmack des darauf abgebildeten Fisches oder die reife Süße der ihn umkränzenden Weintrauben sichtbar mache. Es mag ja so sein, doch mit welcher Absicht und zu welchem Nutzen wird ausgerechnet das hervorgehoben?
Oder: Ein (ansonsten sehr instruktiver) Artikel anlässlich des 500. Geburtsjubiläums Raffaels trägt die Überschrift: Die Würde und Schönheit des Menschen bleibend gestaltet. Des Menschen ist jeder Mensch schön, besitzt jeder in gleichem Maße Würde, sind diese Eigenschaften demnach Gattungsmerkmale? Wäre es so, dann besäße der zitierte Ausdruck ungefähr den gleichen semantischen Gehalt wie der folgende: Den Menschen als aufrecht gehenden Zweibeiner bleibend gestaltet, er wäre also ziemlich leer.
Aber es ist ja nicht so. Es gibt schöne und hässliche, würdevolle und würdelose Individuen, von beiden nicht zu knapp, dazwischen noch alle denkbaren Schattierungen und Varianten. Die Ellipse ist damit nicht nur nichtssagend, sondern falsch. Doch einerlei, ob so oder so, eines bleibt ohnehin im Dunkeln: Was bedeutet es eigentlich, vom Werk Raffaels zu sagen, dass er vorzugsweise oder ausschließlich ansehnliche und ihre natürlichen Bedürfnisse beherrschende Menschen gemalt hat? Oder verstünde sich das von selbst?
Mir ist, als höre und lese ich dergleichen fortwährend und seit einer Ewigkeit, präziser: seit meiner Schulzeit. Der Künstler stellt dieses oder jenes dar, will dieses oder jenes sagen. Dieses oder jenes das ist entweder etwas, dem man in der Realität mit zustimmenden Empfindungen begegnet oder begegnen sollte, oder es ist etwas gleichermaßen Großartiges wie Abstraktes, nicht selten beides in einem. Frühzeitig begriffen wir, dass solche Formeln lobend gemeint waren, und erlangten bald Übung darin, selber welche zu erzeugen. So wusste ich, auch wenn es mir nicht ausdrücklich gesagt wurde, dass das Antlitz eines Renaissance-Kaufmannes nicht bloß interessant anzusehen oder gut gemalt war, sondern das Selbstbewusstsein des aufstrebenden Bürgertums widerzuspiegeln hatte. Ich wusste das, verstand es aber eigentlich nicht und schämte mich dessen ein bisschen. Ich gab daher nicht zu, dass mir dies einmal sehr weit hergeholt zu sein schien, zum anderen mein Gefallen an dem Bild in keiner Weise betraf. Das aufstrebende Bürgertum ließ mich jedenfalls ziemlich kalt, was mir lange Zeit Schuldgefühle bereitete. Später mühte ich mich nicht mehr ab, etwas zu sehen, das ich beim besten Willen nicht sah, und etwas gut oder schlecht zu finden, von dem mir rätselhaft war, wie es an sich überhaupt gut oder schlecht sein konnte. Wenn ich derartiges las, empfand ich zwar Unbehagen, ging aber dessen Ursache nicht weiter nach: vielleicht aus Furcht vor jenem Gefühl der Unzulänglichkeit, das mir in der Schule zu schaffen gemacht hatte.