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Zwei an der Grenze von Friedrich Wolf
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Preis E-Book:
9.99 €
Veröffentl.:
09.12.2024
ISBN:
978-3-68912-397-0 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 972 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Geschichte, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Politik
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Historischer Roman, Kriegsromane: Zweiter Weltkrieg
Arbeiterbewegung, Arbeiterklasse, Arbeitermilieu, Arbeitersolidarität, Arbeiterstreik, Bauernleben, Courage, Demonstration, Dorfleben, Ehe, Emigration, Erinnerung, Flugblätter, Existenzkampf, Fabrikalltag, Fabrikleben, Familie, Familienkonflikte, Familienleben, Faschismus, Flucht, Fluchthilfe, Frauenstreik, Freundschaft, Feindschaft, Geheimmission, Geheimnisse, Gemeinschaft, Gerechtigkeit, Gesellschaft, Gesellschaftskritik, Gewalt und Dialog, Gewerkschaft, Grenze, Grenzgebiet, Grenzregion, Grenzschutz, Heimat, Hoffnung, Ideale, Ideologie, Illegalität, Kampfgeist, Klassengesellschaft, Klassenkampf, Kleinbauer, Konfliktlösung, Kriegsvorbereitung, Kriegsvergangenheit, Ländliches Leben, Lebenswandel, Liebe, Liebe und Eifersucht, Lohnkampf, Loyalität, Macht und Ohnmacht, Machtstrukturen, Menschlichkeit, Misstrauen, Moral, Mut, Mutterschaft, Nationalsozialismus, Naturverbundenheit, Naziturner, NS-Zeit, Opferbereitschaft, Persönliche Verantwortung, Politik, Politische Auseinandersetzung, Politische Konflikte, Proletariat, Protest, Rebellion, Sabotage, Schachspiel, Schmuggel, Selbstaufopferung, Sirenen, Solidarität, Solidarität mit Spanien, Solidaritätsaktionen, Soziale Gerechtigkeit, Sozialer Widerstand, Sozialkampf, SS-Patrouille, Streik, Streikführung, Streikposten, Textilfabrik, Tragödie, Trauer, Überleben, Überlebenswille, Ungerechtigkeit, Unrecht, Verbotene Liebe, Verfolgung, Verlust, Verrat, Vertrauen, Verzweiflung, Widerstand, Mord, Zusammenhalt, Zwischenmenschliche Spannungen
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Erstes Kapitel: DER FLÜCHTLING

1. An Interessenten zu verkaufen!

Der Mann auf der groben Holzbank neben dem Ofen scheint wie tot. Sein Oberkörper hängt gleich einem Ballen Tuch in den Armen des Jüngeren, sein Kopf mit dem schweißverklebten Haar berührt fast den Tisch. Die Alte hat ihm grade die Stiefel heruntergezogen und die verdreckte, durchblutete Hose übers Knie gestreift.

„Besser ins Bein als ins Hirn!“, stellt sie fest und reinigt mit Leinenfetzen und Arnika die Wundränder. „Das Schlimme ist noch immer nicht das Schlimmste …“; mit kundiger Hand faltet die fünfzigjährige kräftige Bäuerin einige saubere Lappen zu einer Kompresse und drückt sie auf die durchschossene Wade. „ … grad droben am Golm herumturnen muss man.“

„Das nächste Mal kommen wir in einem Luxuswagen, Mutter Marie!“, meint der „Stummel“. (Er verlor zwei Finger der rechten Hand durch eine Kreissäge.)

Die Frau schweigt.

„Habt ihr den Schuss gehört?“

„Hörst eher den Satan husten in so ’ner Nacht“, brummt die Marie, „wo die Schloßen uns fast die Scheiben zertrommeln.“ Sie hat den Verband beendet und beginnt mit Hilfe des Jungen dem Verwundeten das völlig durchnässte Oberzeug auszuziehen. Rock, Sweater und Hemd wirft sie über die Stangen des mächtigen Bauernofens, dann schlingt sie ein grobes Handtuch um die Brust des Mannes, kniet hinter ihm, nimmt ihn wie ein Kind in die Arme und beginnt, den Halberstarrten mit aller Kraft zu reiben. Der hustet, stöhnt, schaut jetzt gradeaus auf den jungen Arbeiter. „Stummel …“

„Morgen, Hans!“ lächelt der ihm zu, „beinah könnt man zu dir sagen: gute Nacht!“

„Ist der Kaffee noch nicht fertig? Gieß Spiritus auf den Kocher, Mädel!“, ruft die Bäuerin ins Halbdunkel des Zimmers.

Hans schaut sich um, zur Mutter Marie und wieder zu seinem Kameraden. „Schon drüben?“

„Wo wir hinwollten.“

Er betrachtet sein Bein. „Ach so …“ Dann meint er zu der Frau: „Die Mutter vom Otto?“

„Die Mutter vom Otto“, wiederholt die Marie und betupft eifrig die Schrammen an seinen Händen mit Arnika; „war auch so einer.“ Sie streift jetzt dem Verwundeten ein frisches, grobes Hemd über, das man ihr aus dem Dunkel zuwirft, auch eine dicke Wolljacke, wie sie die Arbeiter im Steinbruch tragen.

Der Angeschossene sieht sich um. „Schon lange hier?“

„’ne halbe Stunde Vorsprung!“, erklärt der Stummel und nimmt seinen Kopf. „Über die ,kahle Wand‘ machen sogar die SS-Patrouillen nicht gern ’ne Himmelfahrt.“

„Hier, Mutter!“ Ein Mädel von vielleicht zwanzig Jahren bringt eine große Emaillekanne und zwei Tassen; sie verschwindet sofort wieder und trägt dann noch Brot und Schlackwurst hinzu. Dem Verwundeten geht’s nicht ums Essen. Gierig schlürft er den heißen Kaffee, eine Tasse, zwei … seine Hand zittert, die schwarze Flüssigkeit rinnt aus den Mundwinkeln. Das Mädel bringt frisches Wasser. Ja, das ist besser, aber auch das Wasser verschüttet er, obschon er den Becher mit beiden Händen umfasst wie einen Pokal.

„Was stehst du herum, Loni? Die Strümpfe runter!“

Das Mädel fährt zusammen, bückt sich und streift dem Mann die von Schneewasser und Lehm durchweichten Strümpfe von den Füßen. Der rechte klebt, das Blut vom Wadenschuss ist unten geronnen; sie löst vorsichtig die Kruste, sie kann ruhig fester ziehen .., der Hans merkt es nicht, erschöpft ist er zurückgesunken, in die Arme der Marie; schmal und kantig liegt sein Kopf an der hohen, vollen Brust der Bäuerin.

Was muss der Mann durchgemacht haben? Immer wenigeren gelingt es in letzter Zeit – da die Sperrketten des SS-Grenzschutzes mit ihren Meldehunden verdreifacht wurden –, den Gebirgskamm nachts zu überschreiten. Ein Glück, dass der Stummel ein so sicherer Führer ist, der jeden Spalt, jede schattenwerfende Wand des sonst kahlen Golms kennt; ein zuverlässiger, stets williger und lebensfroher Kamerad ist dieser zwanzigjährige Holzarbeiter aus dem deutschen Grenzort. Er stellt jetzt die kleine Petroleumlampe nach hinten, drückt den Laden etwas auf und späht in den Februarmorgen. Durch die teerdicke Nacht rinnt vom östlichen Horizont ein schmaler, feuriger Streifen, ein vorzeitiger Schimmer des Morgenrots.

„Wird Zeit für mich“, meint der Stummel und schlüpft in seine Windjacke; „Mutter Marie, haltet den Hans noch ein paar Tage hier, aber keinen zulassen, auch keinen Knochenflicker!“

„Denkst wohl, ich lass ihn hinmachen?“, knurrt die Marie, krempelt das Hemd über ihren muskulösen Armen auf und erneuert die Kompresse. Sie kann es nicht vergessen, wie im letzten Jahr ihr Junge, der Otto, bei einem Überfall durch die Faschisten von einem Stich in die Brust schwer verwundet wurde und wie der Bezirksarzt an ihm herumfuhrwerkte, bis er ganz verblutete.

Der Stummel hat eine alte Autohaube über seinen hellen Haarschopf gestülpt; das Mädel steckt ihm schnell den Rest der Wurst zu, er sträubt sich einen Augenblick. „Loni, die glauben daheim, ich hab geerbt!“

„Wegen ’ner Wurst?“

„’ne Wurst, du, das ist drüben was Kolossales, direkt ein Kapital! Hing da letzte Woche an unserm Arbeitsamt ’ne alte Bratpfanne, und auf die schwarze, rußige Platte war mit Kreide draufgemalt: ,An Interessenten zu verkaufen!“'

Hans hat sich aufgerichtet. „Seid vorsichtig, Stummel!“

„An Interessenten zu verkaufen!“, lachte der über beide Ohren weg. „Hunderte haben’s gesehn, bevor die SS-Wache die verrostete Schmalzkanone herunterholte; war das nicht prima?“

„Prima“, bestätigt der andre, und dann leiser: „Nur, möglichst wenige von uns sollen dabei kaputtgehn, Stummel …“

Der Stummel ist fertig.

Hans drückt ihm die Hand. „Grüß mir die Kumpels, Stummel, ich komme bald.“

2. Wie die Löffelmarie den Gendarmen bedient

Die Mutter Marie hat den Stummel nach draußen geleitet. Der junge deutsche Arbeiter muss noch vor der Morgendämmerung über die Grenze.

Die Loni wischt mit heißem Wasser den Boden auf. Überall sind Blutspuren. Plötzlich schaut sie nach dem Verwundeten; er stützt seine Arme auf den Tisch, sein Körper ist wieder vornübergesunken. Das Mädchen holt eine Decke, rollt sie, zögert einen Augenblick; dann tritt sie hin. „Leg dich!“ Sie bettet ihn auf die Bank und schiebt die Rolle unter seinen Kopf.

Er atmet tief.

Die Stille im Zimmer summt. Ganz leise geigt es in seinen Ohren. Sein Blut oder der hohe Wind im Kamin? So ruhig war’s seit Monaten nicht mehr. Keine schwarze Uniform wird hier auftauchen. Deutschland liegt drüben. Drei Kilometer weit. Mindestens! Jawohl, diese drei Kilometer sind wie dreihundert! Dazwischen ist die Grenze. Wie frei das Mädel sich bewegt; man merkt, sie musste noch nicht oft sich ducken, ihre Gedanken verschlucken, an die Wand gepresst lauschen. Sie ist nicht groß, aber ihre Schultern sind kräftig, ihre Bewegungen sind direkt und jungenhaft. Sie kniet nicht beim Aufwischen, sie macht das stehend, wie Matrosen auf den Flussschiffen, die Arme in die Seiten gestemmt, mit einem Fuß den feuchten Lappen über den Boden ziehend.

Hans schaut durch die Spalte der Läden. In braunroten Schleiern erhebt sich der Tag. Dort, im Norden, steht eine blauschwarze Wand, da muss der Rossberg liegen und die kahle Felswand des „Golm“ und dahinter …. Deutschland.

Die Bäuerin tritt ein. Sie riegelt hinter sich ab, geht auf den Hans los. „Schnell, in die Kammer!“

Das Mädel schaut sie an.

„Der Wachtmeister!“

Auf beide Frauen gestützt humpelt der Flüchtling die schmale Stiege nach oben. Ein kleiner, holzverkleideter Raum. Sie heben ihn auf ein Bett, werfen ihm eine Decke über und verschwinden. Er hört, wie nebenan sich jemand legt, wie die Stiege knarrt unter eiligen Schritten.

 

„Mutter Marie … ersuche aufzumachen!“

„Du?“, fragt die Bäuerin leise.

„Musst erst fragen?“

„Mitten in der Nacht …“, zieht die Marie das Gespräch hin, „… hab heut keinen Humor für Mannsleut.“

„Der Gendarmerie aufzumachen, dazu braucht’s keinen großen Humor.“ Der draußen drückt die Klinke nieder. „Vorwärts! Aufgemacht!“

Der Gendarmeriewachtmeister Josef Wirrba steht breit und dienstlich in der Stube, die nur von der kleinen Lampe erhellt ist. Einzelne Stellen des Fußbodens sind noch feucht.

„Wer hat denn hier grad aufgewischt?“, fragt er mit Bedeutung.

„Aufgewischt? Ich.“

„In der Nacht?“

„Seit wann kümmert sich der Herr Gendarm um Weiberkram?“ Mit einem Blick überfliegt die Marie die Stube, nichts liegt herum. Keine Unsicherheit zeigen! „Sepp, zwischen uns beiden ist’s – denk ich – aus; zudem sechs Uhr früh ist nicht Zeit für Späßchen.“

Wachtmeister Wirrba scheint heute ausnahmsweise wirklich keine Lust zu Späßchen zu haben; er nimmt mit seiner tulpenförmigen Nase Witterung, stakst auf den mächtigen Ofen los, öffnet mit seinem Säbel dessen Tür und stochert eine halbverkohlte Mullbinde hervor, an deren unversehrtem Ende noch braunrote Flecke sichtbar sind … „Späßchen?!“

Mit einem heftigen Griff packt ihn die Bäuerin an der Brust, stößt ihn gegen die Wand und drückt ihn dort auf die Bank nieder. „Als mein Otto von den Turnerbrüdern abgestochen wurde, da warst du nicht mit deinem Bratspieß hinterher und hast nach Flecken gespürt!“

„Sei verständig, Marie“, keucht der Wirrba, ohne seine repräsentative Stellung wiederzugewinnen, da die Bäuerin den schweren asthmatischen Mann an der Schulter niederhält, „es sind die Nacht wieder welche über die Grenze!“

„Salz dir deine Grenze ein! Hier ist hier! Wie steht’s mit dem Gedenkstein?!“

Diese letzte Frage ist ein höchst peinlicher Punkt im Leben des Wachtmeisters; sie lastet noch schwerer auf ihm als das massive Gewicht der Marie. Sie hat dem Gendarmen gutgläubig die Ermittlung des Mörders ihres Sohnes anvertraut. An sich war das Wirrbas verdammte Pflicht und Amtsobliegenheit. Doch sie gab ihm zweihundert Kronen als besonderes Handgeld. Der Wachtmeister Josef Wirrba – wegen seiner zahlreichen galanten Abenteuer im Dorf auch „der keusche Josef“ genannt – hat diese Summe restlos für seine „speziellen Recherchen diesseits und jenseits der Grenze“ verbraucht. Vergebens. Den Mörder fand er nicht. Die Marie aber bohrte sich immer mehr in den Gedanken hinein, dass ihr Sohn weder umsonst gelebt habe, noch auch umsonst gestorben sei:

„Ein Gedenkstein, an dem niemand vorübergehen kann“, ein ganz besonderer Stein muss aufs Grab!

Die Täler und Felswege auf und ab rennt mit ihrer Hucke selbstgefertigter Holzlöffel und Geräte die rüstige Kleinbäuerin und Händlerin Marie Fink, die „Löffelmarie“; bei jedem kleinsten Steinmetzen spricht sie vor wegen einer Gedenkfigur für ihren Sohn; doch etwas Besonderes, „an dem niemand vorübergehen kann“, findet sie ebenso wenig wie der Wachtmeister. Der weiß ganz klar, was es sein müsste, eine Statue aus Stein oder Bronze, ein Arbeiter, der nach rückwärts gesunken ist, während ihm ein Dolch in der Brust steckt.

Wieder ist die Marie Feuer und Flamme, wieder gibt sie dem Grenzgendarmen einen Auftrag und eine Anzahlung.

Am gleichen Abend liegt der Wirrba sinnlos betrunken im „Adler“. Da also bleibt das Geld, da endet seine Arbeit!

Wie er in einer der nächsten Nächte leis an ihr Fenster klopft, lässt sie ihn ein wie vor Jahren; aber das robuste, wütende Bauernweib bedient ihn diesmal auf eine besondere Art; es springt mit dem beleibten und im Grunde wehrlosen Wachtmeister derart um, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Wie eine Löwin, die einen Stier niedergerissen hat, wirft sie ihn zu Boden und setzt ihm zu: „Betrüger! Saufaus! Jagt die Spargroschen einer Witwe durch die Gurgel, das Genick soll man ihm brechen, jeden Knochen einzeln!“

Eine ganze Woche muss der Wachtmeister daheim die Stube hüten, sein Gesicht gleicht einem verbeulten Kupferkessel, seine Arme und Beine kann er nur mühsam gebrauchen, nachdem ihn in jener Nacht „Schmuggler von rückwärts überfallen und fast erwürgt haben“.

So macht denn auch in dieser heutigen Februarnacht das dienstliche Auftreten des Grenzwachtmeisters Wirrba auf die Löffelmarie keinen überwältigenden Eindruck, obschon sie wegen des unbekannten Verwundeten in ihrem Haus sich nicht recht wohl fühlt.

„Bin schon sechs Jahre Wachtmeister“, schnauft der Gendarm und nestelt seinen Kragen zurecht, „man müsste mal einen wirklichen Fang tun …“

„Und am nächsten Tag Herr Oberwachtmeister sein …“

Es klopft.

Die Marie hält den Atem an. Fährt der Satan diese Nacht Schlitten? Oder der Stummel … musste er an der Grenze umkehren? Oder ein zweiter Flüchtling?

Draußen dämmert der Tag. Wirrba drückt sich geräuschlos am Tisch hoch und zieht seine Pistole aus dem Leder; er schiebt die Marie hinter sich. Seine Stunde ist da! Jetzt wird er zeigen, was ein Mann ist!

Erneutes Klopfen.

Und von draußen eine Stimme wie ein sich dehnendes Gummiband: „Bitte die verehrten Landsleute zu öffnen, wobei sie gewiss nicht bereuen werden, von einer ebenso dringlichen wie akuten Sache Kenntnis genommen zu haben!“

Der Gendarm hat in wilder Entschlossenheit die Tür aufgestoßen und mit einem Raubtierbändigergriff ein Individuum in die Stube gezerrt …

 

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