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Gegenwind. Geschichten von Sonja Voß-Scharfenberg
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
04.08.2022
ISBN:
978-3-96521-734-8 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 202 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Biografisch, Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert, Belletristik/Lesbisch, Belletristik/Politik, Belletristik/Moderne Frauen
Biografischer Roman, Familienleben, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Liebe und Beziehungen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik
Mecklenburg, Biografie, DDR, Lesbisch, Liebe, Familienleben, Wende, Alkoholiker
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Die Uhr

Vor der Goethestraße siebenunddreißig stehen viele Autos, mehr als sonst. Die Leute sehen aus den Fenstern, obwohl sie wissen, bei Fischers ist Beerdigung. Ein Trabant mit Rostocker Kennzeichen findet nur noch mühselig eine Parklücke. Ein korpulenter Mann in schwarzem Anzug und eine Frau steigen aus. Der Mann reckt sich, schnipst an seinen Hosenträgern und macht dann ein ernstes Gesicht.

Im Trauerhaus sieht man Umrisse hinter den Gardinen.

Sie gucken, wer kommt, denkt der Mann, und werden sagen: Schön, dass wir uns alle einmal wiedersehen, wenn nur der Anlass ein anderer wäre. Günter kommt, werden sie sagen und die Witwe, seine Schwägerin, benachrichtigen. Man wird ihn umarmen. Lauter verwandte, fremde Menschen. Nichten und Neffen, deren Namen er nicht kennt, werden Onkel Günter sagen.

Eigentlich hatte er einen Kranz schicken wollen, und gut. Aber Helga hatte gemeint, sie müssten teilnehmen, immerhin handele es sich bei dem Verstorbenen um den Bruder. Bruder hin, Bruder her, sie haben fünfzehn Jahre nicht miteinander geredet. Nicht, dass sie sich gestritten hätten. Sie haben sich aus den Augen verloren und sich nicht gebraucht. Das ist alles. Und jetzt so ein Tamtam. Aber Helga muss auch mal raus. Sie ist so erlebnishungrig. Seit sie das Eigenheim in der Waldsiedlung haben, hat sie nur noch mit dem Haus zu tun. Das will saubergehalten werden, und der Garten soll gepflegt aussehen. Sonst braucht man kein Grundstück. Am Abend vor dem Fernseher schläft sie dann ein.

Das hat der Bruder richtig gemacht, denkt der Mann, als er den Kranz aus dem Kofferraum holt, KWV-Wohnung, und Schluss.

Sie hatten das Eigenheim erst, als die Kinder schon fünfzehn und dreizehn Jahre alt waren. Da haben sie kaum noch im Garten gespielt. Und jetzt wollen sie von dem Katen, wie sie sagen, nichts wissen. Vater immer nur beim Bau, als sie klein waren, und Mutter beim Handwerkerbekochen. Das Haus wollen sie nicht geschenkt. Wenn sie sich vorstellen, im Winter um fünf in den Keller und die Heizung in Gang setzen nur für das bisschen Gefühl: Es ist meins. Nicht geschenkt wollen sie dieses Haus. Helga wollt’s schon verkaufen, aber nichts da, seiner Knochen Arbeit steckt drin, seine Zeit, alles, was er an Kreativität aufzubringen vermochte, hat er in dieses Haus gesteckt. Da bleibt er, und da wird er auch sterben.

Wenn er gestorben wäre, würden jetzt viele von den Autos in der Waldsiedlung stehen. Er brauchte sich nicht mehr umarmen zu lassen von all den Menschen und sich nicht zu ärgern, dass sich die Leute die Schuhe nicht ausziehen.

 

Das Wohnzimmer seines Bruders ist schlicht eingerichtet und ohne Geschmack. Es hängen Erinnerungssouvenirs von den Urlaubsorten an den Wänden. Grüße aus dem Thüringer Wald, dem Harz, aus Budapest, Prag und was man sonst noch so bereisen kann. An die dreißig Stück. Gott, denkt er, wie kitschig und protzig zugleich. In den Schränken werden sich die Fotoalben stapeln. Selbstgefällig war mein Bruder schon immer. Er hatte immer Spaß an den Dingen, die er tat, immer Freude an der Arbeit, zu der er gerade ging. Vor fünfzehn Jahren hatte der Bruder schon zwölf Arbeitsstellen gehabt. Er hingegen kannte nur zwei Betriebe. Seit neunzehn Jahren war er Abteilungsleiter auf der Werft. Das ist Beständigkeit, Beharrlichkeit, Kampfgeist. Wenn’s dem Bruder irgendwo nicht mehr gefiel, ist er dahingegangen, wo es ihm gefallen würde. „Man lebt nur einmal“, hat er gesagt, „da will ich’s mir so gut wie möglich machen. Da will ich mich nicht herumquälen und mich mit Dingen aufhalten, die mir nichts mehr geben außer Geld. Keine Kraft hatte der Junge, kein Durchhaltevermögen. Er erinnert sich, wie er und Helga geredet haben mit dem Bruder, als der den Maurerberuf hinschmiss. Gute, solide Arbeit hatte er geleistet und im Feierabendgeschäft ein Wahnsinnsgeld verdient. Aber plötzlich, aus heiterem Himmel, wollte er Post austragen, damit er mehr Zeit hätte nachmittags und mit den Kindern Unternehmungen machen könnte, wie er damals sagte.

Dann ist er auch bald in die roten Zahlen gekommen, und er hat Vaters goldene Uhr verkauft. Und was hat er gemacht mit dem Geld? Nicht etwa die Schulden bezahlt, sondern ein Riesenfest gegeben, mit soviel Gästen, als wär’s eine Hochzeit. Einfach so aus Spaß, weil man nur einmal lebt.

Nein, eigentlich hatte er hier nichts zu suchen.

In der ganzen Wohnung stehen Gruppen Schwarzgekleideter, rauchend und Kaffee trinkend.

Helga geht in der Küche der ältesten Nichte zur Hand. Alle anderen Frauen sind um die Schwägerin bemüht. Im Schlafzimmer sitzt ein etwa zehnjähriger Junge in weißem Hemd und schwarzer Hose auf dem Nachttisch und spielt mit einem Taschenmesser.

Ein blasses Bürschchen, denkt der Mann. Wer um Gottes willen hat denn dieses Kind mit hergebracht?

„Wie heißt du?“, fragt er den Jungen.

„Ich bin der Jan“, sagt der Junge. „Und du bist Onkel Günter, nicht?“

Der Mann zuckt zusammen. Onkel Günter. Wahrscheinlich gehört der Junge zu irgendjemandem von der Seite seiner Schwägerin.

„Wolltest du mit her“, fragt der Mann, „hättest du nicht bei der Oma bleiben können?“

Der Junge sieht ihn verständnislos an. „Die Omas sind doch beide tot“, sagt er dann, „und außerdem, Mutter sagt, es ist das letzte, was wir für Vater tun können, ihn zur Stätte zu bringen.“

„Vater?“

„Du bist doch Onkel Günter, nicht? Vaters Bruder? Weißt du denn gar nicht, wer tot ist? Vater ist tot“, sagt der Junge.

„Ich wusste nicht, dass es dich gibt, Jan. Ich dachte, nur Renate und Birgit … “

„Hast du ihn gern gehabt, den Vater?“, fragt der Junge.

„Nein, wir waren uns eigentlich immer sehr fremd. Ich weiß nicht, ob du das schon verstehen kannst. “

„Versteh ich“, sagt der Junge.

„Jan, wenn ich irgendetwas für dich tun kann, dir irgendwie helfen, dann … “

Er weiß nicht, was plötzlich in ihn gefahren ist, warum er das sagt, was er nicht so meint, was er aber nun zu Ende bringen muss, wie er glaubt.

„Ist sicher schwer ohne Vater?“

„Ich weiß nicht“, sagt der Junge, „ist erst drei Wochen her. “

„Kommst du klar in der Schule?“

„Die Lehrer sagen, ich bin ein Einzelgänger. Zensuren hab ich ganz gute.“

„Magst du denn nichts mit den anderen Jungen unternehmen?“

„Nicht besonders. Ich bin gern für mich. War gern mit Vater. “

„Was habt ihr gemacht zusammen?“

„Geredet haben wir, sind spazieren gegangen. Er hat mir viel gezeigt. Vor zwei Jahren waren wir ein Wochenende campen auf einer Insel. Da haben wir nichts zu essen mitgenommen. Nur von dem gelebt, was wir in der Natur fanden. Wir haben ein paar Kartoffeln geklaut und sie ins Feuer gehalten. Da war ich erst neun, und da hat Vater mir schon die Uhr geschenkt. Es ist eine wertvolle Uhr. Vater sagte, sie hat Geschichte. Er hat sie dreimal verkauft und immer wieder teurer zurückgekauft, wenn Geld da war. Der Großvater soll sie auch schon ins Pfandhaus getragen haben. Gibt’s ja heute nicht mehr. Es ist gut, wenn man so ein Stück hat, das weitergegeben wird, sagte Vater. Soll ich sie dir zeigen?“, fragt der Junge. „Sag doch was.“

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