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Anja zählte die Schläge der Kirchturmuhr. In klaren Nächten war der Glockenschlag bis ins Neubauviertel zu hören. Sieben, acht, neun … Anja zählte weiter bis zwölf. Mitternacht war heran, die Geisterstunde. Als Anja .klein war, fand sie dieses Wort genauso gruselig wie den Schrei des Käuzchens. Der Totenvogel sollte das sein, hatte die alte Frau Peluschkat von nebenan gesagt. Schreit er, so muss jemand sterben. Anja hatte damals Angst um Vater, Mutter, die kleinen Brüder und natürlich um sich selbst. Sie wartete, wer sterben würde. Frau Peluschkat war die Älteste weit und breit, also wäre sie an der Reihe gewesen. Es war niemand gestorben, auch nicht Frau Peluschkat. Anja erinnerte sich, wie froh sie einerseits gewesen war, andererseits auch enttäuscht. Solche Geschichten waren Unsinn, den sich die Erwachsenen ausdachten, genau wie das Märchen vom Klapperstorch. In ihrem Zimmer, das zum Garten hinausging, hatte sie später noch häufig das Käuzchen schreien hören. Im Neubauviertel gab es kein Käuzchengeschrei. Hier konnte nicht einmal eine richtige Geisterstunde stattfinden.
Jan drehte sich in seinem Bett um. Der Kleine sollte nie den alten Unsinn zu hören bekommen. Er sollte vernünftig erzogen werden. Kein Egoist, kein Muttersöhnchen, keiner, der auf äußeren Schein aus war, sondern ein richtiger Mensch sollte Jan werden. Natürlich mussten Regeln sein, aber nicht ohne Ausnahme. Das Weiche-keinen-Finger-breit-Muster gefiel Anja nicht. Ihr Vater hatte wohl recht, wenn er vom Mut redete, unpädagogisch zu sein. Vielleicht hatte sie ihre Art, mit Schülern umgehen zu können, vom Vater geerbt. Es gab noch solch ein kluges Wort vom Vater: Was du in der Schule an Zeit zusetzt, sparst du an Nervenkraft ein. Ein wahres Wort, das hatte sie bald begriffen. Kay begriff es nicht. Er hatte nur gemerkt, mit links war nichts drin. Das Motto „Schule aus, Türen und Fenster zu“ galt für sie nicht. Nach dem Unterricht lief ihre Arbeit auf vollen Touren. Sollte sie sich im Kollegium nachreden lassen, zum Kaffeekochen ist sie brauchbar, aber sonst? Nur wenige Tage hatte Kay ihren Einsatz akzeptiert und gesagt, sie müsse sich eine Position schaffen. Dann hieß es: Wenn ich zu Hause bin, hast du auch da zu sein, um vier ist Feierabend, da fällt der Hammer, Versammlungen haben in der Arbeitszeit zu liegen, basta! Gut, in seinem Betrieb wurde es so gehandhabt. Niemand konnte die Kollegen über die Arbeitszeit hinaus festhalten. Diese Einstellung vertraten nicht nur Kay und seine Brigade, sondern alle in der Produktion. Blieb jemand länger, galt das als Überstunde. Auf der Bezirksparteischule hatte Kay diese Ansicht höchstens theoretisch verändert. Nein, er begriff es nicht, .dass sie so lange in der Falkensteiner Schule blieb, wie sie gebraucht wurde.
Jan lachte im Schlaf. Sicherlich träumte er einen schönen Traum. Dass jede Schwierigkeit beseitigt wäre, wenn sie als Pionierleiterin arbeitete, hatte sich als kurzer Traum erwiesen, dem ein ernüchterndes Erwachen folgte. Manchmal machte Kay nur ironische Bemerkungen über ihre Arbeit, aber meistens forderte er, dass sie in Falkenstein kurz trat. Anja ärgerte sich auch über seine Verdächtigungen und die Eifersucht.
Noch einmal las Anja den Brief von der ersten bis zur letzten Zeile. Kays Forderung wirkte erniedrigend. Wer aber nicht in angstvollen Gehorsam verfällt, leistet Widerstand. Anja hatte sich gewehrt. Oft gab ein Wort das andere, und diese Worte waren nicht gut. Kay benutzte sogar den Kleinen, um sie zu verletzen. Er hatte ihm beigebracht zu sagen, Mami hat keine Zeit. Anja blickte in die Nacht hinaus. Der Mond stand über dem Neubaublock, der gegenüberlag. War sie nicht zur Stelle, wenn es darauf ankam? Wer versorgte denn Jan, wusch seine Sachen, kochte ihm Pudding? Wer zog ihn an und brachte ihn zu Bett? Und war sie fort über die Krippenzeit hinaus, war auch jemand für ihn da, die Eltern nämlich und Doreen und manchmal auch Uta. Natürlich, auch Kay kümmerte sich um seinen Sohn. Ungerecht wäre es, wenn Anja ihm das abspräche, doch er tat, als wäre es nicht seine, sondern zuerst ihre Pflicht. Er brauchte ihr seine Mutter nicht als Vorbild hinzustellen. Jan war kein vernachlässigtes Kind. Von seiner Mutter vernachlässigt, wie Kay behauptete. Gewiss hätte sie gern mehr Zeit für Jan gehabt. Es war so schön, seine kleinen warmen Hände zu spüren oder sein weiches Haar an ihrem Gesicht. Sie könnten gut zusammenleben, wie eine glückliche Familie, wenn Kay nur etwas Einsicht zeigte. Er saß in seiner Bezirksparteischule und redete über die Gleichberechtigung. Man kann gut reden, solange es Theorie bleibt und nicht an die eigne Haut geht.
Den Eltern war nicht entgangen, dass sie sich stritten. Bei ihnen fand Anja Unterstützung. Eltern stehen wohl immer auf der Seite ihrer Kinder. Sie würde Jan auch verteidigen, aber nur wenn sie mit ihm einverstanden war.
Die Eltern hatten sich nie direkt in die Streitigkeiten eingemischt. Der Vater hatte Kay zwar gefragt, wie er es mit seiner Arbeit halte. Er tue sein Bestes, war die Antwort. Und auf die Frage, wieso er sich dessen sicher sei, hatte Kay zurückgefragt, ob er sonst wohl Brigadier wäre, und in die Kreisleitung der FDJ sei er auch nicht aus Versehen gewählt worden. Der Vater hatte das zugegeben, aber Kay erinnert, dass er eine Frau habe, die auch ihr Bestes tue. Wenn sie zum Beispiel Kreisleitungsmitglied … Kay hatte den Vater sofort unterbrochen, dazu habe sie überhaupt keine Zeit. Er maß mit zweierlei Maß.
Keine Zeit, das war das Ausschlaggebende. Nicht nur zu Hause fehlte Zeit. Stets lief Anja mit schlechtem Gewissen umher. Der Tag hat vierundzwanzig Stunden, das war nicht lang. Anja hatte sich alles so anders vorgestellt, damals in der Zeit ihres Unwissens …