Home
eBook-Shop (nur Verlagstitel)
Links
Warenkorb
Eines Tages komme ich zu Tante Ella, finde sie nicht daheim. Onkel Anton weist mich in die Hardenbergstraße ganz in der Nähe, dort ginge sie spazieren.
Nun habe ich Tante Ella außer mit mir oder meiner Großmutter eigentlich noch nie spazierengehen sehen. Einkaufen ja, aber einfach so?
Ich renne zu der genannten Straße, sehe niemanden. denke an den Ziethenplatz und finde sie dort wirklich - aber auwei, wen hat sie denn da? Geht natürlich nicht einfach so spazieren. Tante Ella schiebt einen Rollstuhl. Darin sitzt ein grässliches Wesen. Ein Mädchen oder eine Frau. Etwas Jüngeres jedenfalls. Die Gliedmaßen dieses Körpers scheinen gegeneinander anzukämpfen, zucken in unrhythmischen Bewegungen, während das an sich unschöne Gesicht sich mühselig zu einer Fratze zusammenruckt, der Kopf wird dabei zur Seite geworfen. Unverständliche Laute, Speichel, und schließlich fällt ein kollerndes Lachen aus dem riesigen Mundloch.
Ich stehe entsetzt davor.
Sieh mal, Hildchen, das ist meine Nichte Elisabeth, sagt Tante Ella zu dem Wesen. Zu mir gewandt: Komm, das ist Hildchen Koslowski, sag ihr guten Tag. Sieh mal, wie sie sich freut! Ich bin steif vor Ekel, kann mich nicht überwinden, meine Hand dorthin zu strecken. Die ist doch dreidamlich, sage ich, was tust du mit der?
Tante Ella baut ihre rundliche Gestalt vor mir auf. Elisabeth, sagt sie, wenn sie in diesem Tonfall mit mir redet, klingt ihre Stimme immer etwas schrill, hab dich nicht so! Hildchen kann nichts dafür, sie ist krank. Sie ist ebenso ein Kind Gottes wie du! Ich betreue sie vormittags, damit Frau Koslowski arbeiten gehen kann. Wir verteilen Jesusblättchen, nicht, Hildchen?
Die Irre lacht wieder ihr irres Lachen.
Ich gehe zwar mit an diesem Tag, als die Tante mich auffordert, tue, was ich sonst öfter und gern getan habe, werfe die kleinen religiösen Zeitschriften rund um den Ziethenplatz bei katholischen Leuten in Briefkästen. Sonst hatte ich dabei Briefträgerin gespielt.
Ich halte mich unauffällig abseits von dem peinlichen Gespann. Natürlich hat Ellachen meine Qualen mitbekommen. Sie spendiert mir beim Fleischer in der Hagenstraße ein Viertel gekochten Schinken, kauft vom Bäcker daneben Brötchen und bereitet mir bei sich mit einem Topf Kakao mein liebstes Essen, versucht dabei liebevoll, in mir Verständnis für das arme Geschöpf zu wecken.
Meine Mutter macht erst einmal wieder alles zunichte, als ich ihr davon erzähle.
Also ich versteh die Ella nicht, hat sie nicht schon genug mit Muttchen und dem Anton am Hals, zieht noch mit dieser Verrückten herum und - in dieser Zeit.
Und mein Vater verbietet mir, künftig mitzugehen und auch weiterhin diese albernen Traktate, wie er sie nennt, zu verteilen. Später erst werde ich erfahren, was das heißt, in dieser Zeit. Die gesunden Nationalsozialisten hatten die Mutter des kranken Mädchens überreden wollen, die Tochter in die Landes-Krankenanstalten bei Tapiau zu geben, weil sie dort viel besser aufgehoben sei. Aber Frau Koslowski hatte das nicht wollen, denn das Hildchen war ihr Liebstes, seit neunzehnhundertsiebzehn ihr Mann fiel. Und vielleicht war gerade der Heldentod des Vaters schuld an Hildchens geistigem Zustand, denn sie hatte das Kindchen noch unterm Herzen getragen, als damals die furchtbare Nachricht kam. Und überhaupt hatte man in letzter Zeit von einigen Unglücksfällen und plötzlichem Tod gar solcher Kranken gehört ... So ein ewiges Kind sei am besten bei seiner Mutter aufgehoben! Da wurde Frau Koslowski dienstverpflichtet, und Ellachen sprang ein, »Gottes Gebote zu halten«.
Ob die beiden Frauen es schafften, die Kranke vor der Euthanasie zu bewahren, ich weiß es nicht. Wie mit anderen schlimmen Geschehnissen passierte auch bei mir: aus den Augen, aus dem Sinn.
Nun war das für mich als Kind noch verständlich, und wie sich zeigt, ist es ja doch im Sinn geblieben, wie meine wenigen Begegnungen mit Juden auch, die, als es fünfundvierzig ruchbar wurde, wohin sie verschwunden waren, meine spätere Entscheidung mitbestimmten, in welchem Deutschland ich blieb.