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Pinocchio und kein Ende von Max Walter Schulz
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
03.07.2015
ISBN:
978-3-95655-266-3 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 179 Seiten
Kategorien:
Literaturkritik / Deutsch, Literaturkritik / 20. Jahrhundert, Literaturkritik / Semiotik & Theorie
Literatur: Geschichte und Kritik, Deutschland, Literaturtheorie, Literaturwissenschaft: 1900 bis 2000
Klaus Schuhmann, Georg Büchner, Willi Bredel, Thomas Mann, Baklanow, Alfred Andersch, Literatur, Pinocchio, Triptychon mit sieben Brücken, Schriftsteller, Autor werden, 2. Weltkrieg, DDR, 20. Jahrhundert, Krieg, Schreiben
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Vor längerer Zeit erzählte Alfred Kurella von diesen Dingen. In den zwanziger Jahren traf er sich eines Tages mit Henri Barbuße auf einem dieser Schauplätze. Es stellte sich heraus, dass er, der Deutsche, und Barbuße, der Franzose, sich dort gegenübergelegen hatten: in Schützengräben, einen Steinwurf weit auseinander. Sie gingen in die alten Postenstände und besahen sich das Gelände ihrer schrecklichsten Erinnerung. Aber wie ihnen im Krieg die Topografie jedes Quadratmeters vertraut gewesen war, so fanden sie sich nunmehr nur noch schwer zurecht. Die lebendige Erinnerung deckte sich nicht mehr mit der naturalistischen Bildkonserve. Es war nicht ihr Krieg gewesen. Das historische Bewusstsein, beiderseits vom Antiimperialismus bestimmt, hatte sich aus der einst dennoch erzwungenen Optik des Feindbildes, sogar aus der Bildschärfe der Angst befreit. Es war fester, unverrückbarer in die Optik der parteinehmenden Wahrheit übergegangen. Ja tatsächlich: auch das ästhetische Abbild der wirklichen Wahrheit ergibt sich in seinem Wesen und zu überraschend großen Teilen sogar in den Details seiner Erscheinungen aus der weltanschaulichen Sicht des Menschen. Ein altes Gesetz der Ästhetik; es gilt für die Ausbildung der Geschichte ebenso gut wie für die Abbildung der Gegenwart und der Zukunft. Wenn es mit sensualistischer Argumentation geleugnet wird, wird in der Regel die Erkenntnisfunktion der Kunst, bzw. die Erkenntnisfähigkeit des Menschen geleugnet. Die künstlerische Darstellung des Krieges jedoch gebietet Erkenntnis im höchsten Maß: letzten Endes dem Leben zuliebe. Ich weiß nicht, ob ich Kurella in seinem Sinn richtig interpretiert habe. Ich erinnere mich seiner Episode, während ich über das Gespräch nachdenke, das wir im Juni d. J. im Berliner Klub der Kulturschaffenden mit sowjetischen Freunden, Schriftstellern, Teilnehmern des 2. Weltkrieges, geführt haben. Im bedingten Sinn noch vergleichbar, hatte ich vorher eine andere »Schlachtfeldbesichtigung« erlebt: den zweiteiligen sowjetischen Film über die Schlacht im Kursker Bogen. Ich sah die Landschaft der Schlacht wieder, die weite, wellige, schluchtendurchzogene russische Landschaft unter ihrem hohen breiten Himmel. Das Berliner Filmtheater »Kosmos« besitzt eine ausgezeichnete Klimaanlage. Doch hol’ mich der Teufel des Widerspruchs: plötzlich roch ich wieder den scharfen schwarzgrünen Geruch der Wermutstauden, die auf der Bodenwelle wucherten, auf der wir uns damals mit den Geschützen zum Angriff eingegraben hatten, auf denen uns damals, kurz vor dem befohlenen Angriff der schwere sowjetische Feuerüberfall mit ganzer Wucht traf.

Ich roch den schwarzgrünen Wermut wieder, ich hörte das Röcheln eines sterbenden Freundes wieder, ich spürte die Schmetterschläge der Explosionen wieder, aber - ich fand mich nicht mehr ein auf dem Hügel des deutschen Angriffs.

Pinocchio und kein Ende von Max Walter Schulz: TextAuszug