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Die Fliegerin oder Aufhebung einer stummen Legende. Novelle von Max Walter Schulz
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
12.07.2012
ISBN:
978-3-86394-639-5 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 206 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert, Belletristik/Liebesroman/Militär, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Moderne Frauen, Belletristik/Politik
Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Kriegsromane, Liebesromane, 20. Jahrhundert (1900 bis 1999 n. Chr.)
2. Weltkrieg, Bjelorussland, Kriegsgefangene, Deserteur, Liebe, Moskau, Leipzig
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Ich hielt mich seitlich hinter ihr. Wie beim Pilzesammeln. Die ersten Täublinge tellerten in der Nadelstreu. Nach der zweiten weg- und steglosen Stunde stießen wir auf eine Erdhütte. Wild oder Wind oder Regen hatte Löcher in ihr Heudach gefressen. Im Innern nichts als faulendes Laub und eine verrostete Kabeltrommel, der Nachlass eines Telefons. Ljuba hatte nur einen flüchtigen Blick durchs zerlöcherte Dach geworfen. Sie ging ohne Zaudern und Zögern. Sie ging einfach ihrer Nase nach. Sie ging, als wäre der weglose, steglose, hüglige Wald mit Pfeilen Richtung Heimat ausgeschildert. - Ihrer Heimat. Manchmal war mir, als hörte ich dürre Zweige knacken. Nicht unter ihrem Fuß, nicht unter meinem. Immer hinter mir. Der Wald ist eine Flüstertüte. Schon wieder. Ich dachte, es könnte ein Wolf sein. In den russischen Wäldern sollte es noch Wölfe geben. Gesehen hatte ich nie einen. Und wenn es hier Wölfe gab - hier war kein Kampfgebiet -, im Sommer sind die Wölfe satt. Ein Eichelhäher schrie. Er hatte auf unserem Weg schon oft geschrien. Eichelhäher schrein, wenn Leute durch den Wald gehn. Sie warnen das Getier. Werden wir sehen, werden wir leben. Einer von Vaters vielen Sprüchen. Also wollen wir mal sehen. Ich verhielt. Nichts. Keinen Laut. Aber grade eben hatte ich's doch erneut gehört. Das Knacken von dürren Reisern hinter mir. Wölfe sind gewieft. Der Wolf, der dich beschleicht, steht und duckt sich, wenn du stehen bleibst. Aber Wolf bleibt Wolf. Er hechelt. Mein Vater, der selber kein Waldmensch war, hatte mir weisgemacht, man müsste sich mit dem Rücken an einen gesunden Baum lehnen, wenn man im Wald ein feines Geräusch ausmachen will. Da hätte man die Resonanz des Holzes als Verstärker. Mein Vater übernahm sich auch mit seinen Weisheiten. Trotzdem setzte ich mich zwischen die Läuferwurzeln einer gesunden Fichte. Den Rücken am Stamm, die MPi, einstens dem Fahrer gehörig, schussbereit auf den Knien. Die schwarze Haube hatte ich längst weggeworfen. Wollte nicht vom Hals an aufwärts für einen Russen gehalten werden. Das feine Geräusch, das ich ausmachte, kam von den Schritten des Mädchens. Sie schaute sich nach mir um. Weil sie meine Schritte nicht mehr hörte. Sie sah mich sitzen. Ich sah, es gefiel ihr nicht, überhaupt nicht. Einen Augenblick wartete sie auf mich. Ich rührte mich nicht. Gehorsam aufstehen, weil ihre Blicke mich straften? Beinahe hätte ich ihr was gepfiffen: Ich bin ein freier Wildbretschütz und hab' ein weit Revier... Beinahe. Schubberte aber doch lieber das Kreuz an Borke und Stamm. Besser das Allerfeinste hören als pfeifen: ihre Gedanken, ihre Scheltworte. Vielleicht schwang in ihren Scheltworten noch der letzte Ton von jener ungeheuer vergangenen, großen, fröhlichen Gelassenheit. Von dem, was uns so findig und so entschlossen gemacht hatte.

Reiß dich zusammen! schrie der Fichtenstamm. Keinen Ton gab der Fichtenstamm von sich. Eine Maschinenpistole belferte. Ljuba schrie. Schrie gellend. Es riss ihr die Ellbogen hoch. Sie stürzte nieder. Vornüber. Erst jetzt schrie der Fichtenstamm. Schrie unter der Kugelpeitsche, die ihn traf. Ein Tod, ein Teufel im Tarnanzug mit schwarzer Haube schlug mit der Kugelpeitsche zu. Beim Schlag der ersten Kugel war ich schon zur Seite gerollt. In Decke hinter einem andern Fichtenstamm. Eins lehrt der Krieg die aus Lebensangst Gelehrigen, wenn sie Glück haben: Die Dauer einer einzigen Sekunde, ein Mauseloch der Zeit in eine Schutzburg zu verwandeln. Werden wir sehen, werden wir leben. Werden wir leben, werden wir sehen. Ich sah und erkannte das Totenkopfgesicht des großen Denkers. Ich hörte ihn brüllen: "Komm raus, du krummes Geficke! Stirb wenigstens wie ein entlaufner Hund! Oder wir lassen dich deine Klöten fressen!" Er bluffte. Wollte mich glauben machen, ich wäre umstellt. Wäre ich umstellt gewesen, wäre ich längst erledigt. Ich regte mich nicht. Er konnte nicht mit Bestimmtheit wissen, ob er mich getroffen oder nicht getroffen hatte. Er bluffte weiter. "Hierher, Kameraden!", brüllte er. Ach, mein Mädchen. Wer hat uns nur das Märchen erzählt vom Rotkäppchen und dem Wolf... Hörst du mich nicht mehr... Kannst du mich nicht mehr hören... Mit heiserer Stimme schrie ich hinüber zum großen Wolf: "Ich kann nicht mehr." Er schoss aus der Deckung auf mich. Eine Kugel durchschlug meine Gasmaskenbüchse. Wozu schleppte ich eigentlich die Gasmaskenbüchse mit mir herum? Ich hörte, wie er das Magazin wechselte. Er musste also auch den Schlag der Kugel gegen meine Gasmaskenbüchse gehört haben. Nein, während er feuerte, konnte er das nicht gehört haben. Konnte es höchstens gesehen haben. Glaubte jetzt wahrscheinlich an einen Blattschuss in die Niere. Denn er zeigte sich. Ich wartete, bis er sich ganz zeigte. Ganz, ein wenig geduckt, schussbereit.

Die Fliegerin oder Aufhebung einer stummen Legende. Novelle von Max Walter Schulz: TextAuszug