Home
eBook-Shop (nur Verlagstitel)
Links
Warenkorb
Der Mann auf dem Denkmalssockel
In seinem Roman „Das Vorbild mit dem Schnauzebart“ setzt sich Günter Saalmann mit den Erfahrungen unterschiedlicher Generationen auseinander
Wer weiß noch, wer Hermann Duncker war? Für Großmutter war er in ihrer Jugend einer ihrer wichtigsten Lehrer, der Kommunist Hermann Duncker. Und für Großmutter soll er auf einem hohen bronzenen Denkmalssockel stehen – für immer. Das bekommt auch ihr Enkel Hermy zu hören. Der hat seinen Vornamen nach eben jenem Hermann Duncker, dem leuchtenden Vorbild. Und Hermy muss sich immer wieder im Sinne dieses leuchtenden Vorbilds belehren lassen.
Nicht schwer vorzustellen, dass ihm das auf Dauer nicht passt. Er entzieht sich und sucht sich eigene Abenteuer: „Die beiden Reiter könnten die Viertelmeile auf der Hauptstraße machen, angenehmer trabt sich's nirgends, man grüßt nach rechts und links, die Alten lassen Pinsel oder Besen sinken und nicken anerkennend: Verwegene Burschen, halten sich tadellos im Sattel, dieser Hermy, dieser Sieghard!
Sie könnten, wenn sie wollten, ein paar Lassowürfe zum besten geben, etwa über die tollwütigen Rachen der steinernen Löwen vor dem VEB Puppenfabrik „Kindertraum“, vormals Liesetritt & Sohn. Aber was wäre das schon. Sie sitzen ab, werfen die Lassoleinen über die Sattelknäufe und geben Ihren braven Falben einen Schlag mit der flachen Hand auf die glänzenden Hinterbacken: Lauft, ihr wilden Mustangs! Grast in der Prärie! Für uns kommt etwas anderes dran. Der Spritzenweg zum Beispiel, in neunundneunzig Jahren zugewachsen. Ein Trampelpfad führt noch zwischen Knallerbsensträuchern, Pulverholz und knorrigem Holunder hindurch, selbst für den kundigen Fuß kaum zu finden.
Schattenkühle umfängt die Beine, wo sie aus den eingelaufenen Jeans ragen. Junge BrennnesseIn, die sich noch eben friedlich in einem weggeworfenen Schulküchenlöffel spiegelten, schnappen nach den Knöcheln. Unter den Tritten federt die schwarze Erde. Je weiter sie vordringen, desto deutlicher vermengt sich der saftgrüne Duft der Kräuter mit dem Holzgeruch des Spritzenhaustores, das bis zum Schloss in trockenem Gestrünk steckt.
Hinter diesem Tor setzte vor ungefähr hundertneunundneunzig Jahren der Ortsgendarm von Alleben die Landstreicher fest, damit sie ihm nicht etwa in einer Scheune übernachteten und dort Feuer schlugen. Einer, so weiß die Legende, hat einmal aus Rache versucht, die Feuerspritze anzuzünden. Aber es hat nur Qualm gegeben, halberstickt ist der Vagabund entkommen, keiner weiß wie und wohin ... Nach anderen Berichten (der Bäckersfrau) wurde er geräuchert und ziert als Mumie das Naturkundemuseum in Gotha. Das kann aber nicht stimmen. Sie schleichen gebückt an der Längswand unter dem schief überstehenden, zahnlückigen Schindeldach entlang, bis zur Ecke, wo der Regen eine Rinne aus Kieseln in den Boden getropft hat.
„Scht!“
Dieses „Scht“ stellt einen verhaltenen Pfiff vor, den Hermy, der größere, staksigere der beiden Pfadfinder, ausstößt, um die Lage zu peilen. Zu seiner Erbitterung wird er noch immer zum Tragen einer Zahnklammer gezwungen.
„Scht!“
Hermy steckt die Nase um die Ecke. Die Luft ist rein. Das Spritzenhaus kehrt geruhsam wie immer seine Rückfront dem Brühl zu, von wo sich hinter mannshohem Bretterzaun die Schrebergärten den Auenhang hinaufrekeln bis zur Bergstraße, die ganz, ganz oben zur Kirche und zum Kirchhof führt. Das Fleckchen Welt zwischen Zaun und Spritzenhauswand ist der Treff. Tamara fehlt. Aber sind wir kleine Kinder, dass wir einem Weiberrock nachjammern? Aus dem Alter sind wir heraus!
An der Wand zuunterst wackeln, mit Kreide gekrakelt, Wasserköpfe auf Knickbeinen. Fast verblichen. Das war noch Kindergarten. Sick, Sieghard, der kleinere Pfadfinder, der mit der Brille, setzt ein spitzes Eisen an: „Hier?“
„Zu weit unten. Da ist die Mauer zu dick.“ In der nächsten Etage präsentieren Mondgesichter mit hörnchenförmigen Mündern schon Weinen oder Lachen. Je nach Bienchenstempel oder nicht. Sick sucht mit dem Eisen einen Riss im Putz: „Hier?“
„Noch höher!“ In Kopfhöhe: HERMY IST DOFF NEIN SICK NEIN TAMARA NEIN GUDRUN SCH. Die Inschrift ist noch gut lesbar. Nur an einigen Stellen haben Spuren irgendwelcher rostroter Ölfarbe das Einwaschen der Schulkreide verhindert. Dieses Rostrot bildet verschiedene unförmige Flecken an der Wand, auf denen die Kreide von jeher schlecht haftet. „Hier?“ „Los!“ Aufgeregt beginnt das Eisen zu schaben. Es krietscht und kratscht in der Mörtelfuge, rutscht ab, nicht zum Anhören. „Lass mich mal!“
Hermy und seine Freunde verschwören sich und machen eine überraschende Entdeckung und sind näher dran an Hermann Dunker, dem leuchtenden Vorbild mit dem Schnauzebart, als sie selber denken. Der zuerst 1978 im DDR-Kinderbuchverlag Berlin erschienene Roman von Günter Saalmann ist eine noch immer lesenswerte Auseinandersetzung über die Erfahrungen unterschiedlicher Generationen. Und eine Art Lehrstück über die Wirkung von Vorbildern.
Der 1936 in Waldbröl im Bergischen Land geborene, aber in Sachsen aufgewachsene Schriftsteller Günter Saalmann war über die Tanzmusik zum Schreiben gekommen: Die Schlager- und Liedtexte des Posaunisten hatten ihm Mitte der 1970er Jahre einen Studienplatz am Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ eingebracht. Danach wurde er freischaffender Schriftsteller - und Musiker. Zusammen mit dem Jazzgitarristen Helmut „Joe“ Sachse trat er in dem musikalisch-literarischen Programm „Po(e)saunenstunde“ auf, bei Litera erschien 1983 eine gleichnamige LP. Saalmann, der seit Jahren in Chemnitz lebt und arbeitet, schreibt vor allem Kinder- und Jugendbücher, aber auch Kindergeschichten für (Groß)Eltern. Nach eigenen Worten spricht er „Kinder von 92 – 174 cm und Erwachsene ab drei ausgelesenen Büchern“ an. Auch seine musikalischen Programme seien „für alle Altersgruppen von 6 bis 99 geeignet“.