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Für Carlos ist es Flucht. Wegen der Sache mit dem Eisenbahner kann er nicht mehr jauchzen über das Abenteuer Kohlenklau. Er steigert sein Tempo, rennt jetzt. Vater hält mit. An der Chaussee verschnaufen sie kurz und wittern hinüber zum Güterbahnhof.
Abgehängt den Köter, sagt Carlos.
Weiter!, befiehlt Jatzig.
Carlos rennt wieder. Seitenstechen!, ruft er nach einigen Metern. Er bleibt stehen und krümmt sich leicht.
Weiter!, drängt Jatzig. Die haben unsere Spur.
Du hättest den Bahner in Ruhe lassen sollen, keucht Carlos.
Dann säßen wir jetzt schon. Er uns oder wir ihn. Und nicht anders!
Sie hören den Hund wieder. Carlos rennt und versucht gleichmäßig durch die Nase ein- und durch den Mund auszuatmen. Das Stechen verbeißt er. Nach einiger Zeit verliert es sich.
Und jetzt hundert Meter Richtung Helmdorf abbiegen, weist Jatzig an. Dann dieselbe Strecke zurück, über die Straße und nach links in den Feldweg!
Der Schmerz glimmt immer wieder auf und nimmt Carlos den Atem. Scheißkohlen!
Du hättest nicht auf den Draht latschen sollen!, ruft Jatzig. So ergehts den Großkotzigen.
Du hättest nicht so brutal zuschlagen sollen!
Was meinst du, warum ich heil aus dem Krieg gekommen bin?
Wir haben keinen mehr.
Jatzig hält an. Hör zu. Junge! Für mich ist so lange Krieg, solange ich nicht genug zu fressen habe und ich nicht weiß, womit ich winters meinen Arsch warm halten soll. Ich hab das nicht gewollt. Und jetzt holt sich Jatzig, was er verloren hat. Egal wie! Du haust sofort über die Felder ab. Ich mach das hier selber.
Der unvermittelte Ausschluss trifft Carlos nicht geringer als Vaters Faust ihn treffen könnte. Er spannt sich eilig vor die Karre und läuft, so schnell er kann. Vater jagt ihm nach. Es scheint, als trainierten sie Langstreckenlauf.
Am Wäldchen sinken sie erschöpft auf den feuchten, schwach gefrorenen Boden. Sie atmen hechelnd. Die Wolken treiben Mondlicht über die kahlen Felder. In Richtung Helmdorf will Carlos zwei Gestalten gesehen haben. Vierundvierzig im Winter, der 26. Januar war es genau, sagt Vater Jatzig, haben uns Partisanen überfallen. Fritze Sickert hat es erwischt. Von hinten. Heimtückisch. In Mazedonien war das. Mit Fritz war ich drei Jahre lang in derselben Kompanie. Wenn Not am Mann war, wurde die letzte Konserve miteinander geteilt. Dann haben wir Überlebenden die Bergdörfer durchgekämmt. Verstehst du? Wir oder die!
Jatzig wollte seinen Kindern vom Krieg nichts erzählen.
Auch seinem Großen nicht und auch nicht in Andeutungen. Was sie selbst erleben mussten, sagt er sich, genügt ohnehin. Nichts vom Krieg erzählen und nie wieder eine Waffe in die Hand. Der Schwur vieler. Eben ist seine Hand zur Waffe geworden.
Der Krieg macht den Menschen brutal, sagt er. Kein Weib und kein Kind zählt. Schießen. Aus! Zögerst du, erschießt dich der andere. Jatzig legt sich die Hand auf den Mund. Stoßweise presst er seinen Atem durch die Finger. Und wie lange dauert es, ehe so ein Menschlein groß wird.
Er sieht zum Horizont, solange der Mond wie ein gelber Teller durch die Wolken segelt.
Aber du kannst nicht raus aus dem Schlamassel!, ruft er, als hätte er sich vor Carlos zu verteidigen. Der Kleine watet immer im Dreck. Bis zum Halse! Wer denkt denn an dich? Kommt einer und fragt uns, was für ein Leben wir gerne hätten? Uns fragt ja nicht einmal einer, wie es uns geht. Hast du dir für deine Familie das bisschen Krimskrams zusammengescharrt, geht der Krieg los. Nicht eine Schraube habe ich früher aus dem Werk mitgenommen. Das gab es überhaupt nicht! Heute gehe ich Kohlen mausen. Heut hol ich mir, was ich brauche. Hol ichs nicht, holts ein anderer. So ist das Leben. Und aus lauter Neid scheißt einer den anderen an. So sind die Menschen. Der Bahner klaut jeden Tag seine Kohlen. Aber den erwischt keiner. Der kennt den Betrieb. Die Tracht Prügel hat er verdient. Weiter gehts!
Der richtige Moment zum Aufbruch. Carlos beginnt zu frieren, und von den Feldern her trägt der Wind Gebell herüber.
Vater Jatzig lauscht. So folgen sie uns bis in die Stube. Vielleicht gibts Regen. Gebs Gott! Es hat sich wieder dick bezogen. Ein Stück hin fließt ein Bach, sagt Carlos. Er wartet Vaters Antwort ab. Er ist unsicher geworden. Vater tritt auf keinen Signaldraht. Vater holt sich, was er braucht. Vater nimmt die Faust. Der kennt das Leben besser.
Ein Bach?
Nicht breit, manchmal nur zwanzig Zentimeter, bloß knöcheltief.
Wenigstens was!
Vater trägt den Sack, Carlos die Karre. Er führt Vater. Als Wasser unter seinen Füßen patscht, sagt er: Jetzt nach rechts. Sofort dringt das eisige Wasser durch seine zerrissenen Igelitschuhe. Äste behindern ihn. Verbissen kämpft er sich durch. Sollen ihn die Äste peitschen! Er holt Vater und sich aus der Gefahr heraus. Er sucht den sicheren Weg. Von seinem Geschick hängt beider Leben ab.
Noch vierhundert Meter!, meldet er. Da rauscht es in den Bäumen, entfernt noch, näher, Äste brechen.
Sturm!, ruft Vater Jatzig.
Sie bleiben stehen. Horchen der Bö nach, die wie ein Ungeheuer über die Wipfel gerast ist.
Ich bin verdammt sauer, gesteht Vater ein. Die Knochen sterben allmählich ab. Kannst du noch?
Ist nicht mehr weit, antwortet Carlos, als tröste er seine kleinen Geschwister.
Vater Jatzig wirft plötzlich seinen Kohlensack ab. Schnee! Es schneit!
Ein Flockenguss setzt ein. Milliarden kleiner Laternen tragen Licht in den Wald. Bald hebt sich dunkel der winzige Bach hervor. Die Bäume erhalten ihre Stämme zurück. Jetzt können uns alle mal!, jubelt Jatzig. Los, auf dem kürzesten Weg nach Hause!