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Der goldene Schlüssel von Mangaseja von Egon Richter
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
11.06.2017
ISBN:
978-3-95655-807-8 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 121 Seiten
Kategorien:
Kinder-und Jugendbuch/Action und Abenteuer/Allgemein, Kinder-und Jugendbuch/Tiere/Bären, Kinder-und Jugendbuch/Tiere/Wölfe und Kojoten, Kinder-und Jugendbuch/Familie/Eltern, Kinder-und Jugendbuch/Familie/Geschwister, Kinder-und Jugendbuch/Menschen und Orte/Polargebiete
Kinder/Jugendliche: Action- und Abenteuergeschichten, Kinder/Jugendliche: Familienromane, Russland, Zweite Hälfte 20. Jahrhundert (1950 bis 1999 n. Chr.)
Sibirien, Sowjetunion, Geologen, Baku, Nowosibirsk, Erdöl, Erdgas, Bären, Wölfe, Angeln, Familie, Freundschaft
9 - 99 Jahre
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Jelisaweta überlegte einen Augenblick und sagte dann: „Ja, das geht auch. Also, unser Sowchos, weißt du, der ist halb so groß wie die DDR, über fünfzigtausend Quadratkilometer, kannst du dir das vorstellen?“

„Nein“, sagte Mischa, denn das konnte er wirklich nicht. „Und wo ziehen eure Eltern nun hin?“

„Sie ziehen auf die Wintersitze“, sagte Mikul.

„Wintersitze“, sagte Mischa, „wo soll das sein?“

Sie gingen am Fluss entlang und warfen kleine Steine über das Wasser.

„Oh“, rief Mikul, „der war eben gut. Hast du gesehen, achtmal ist er übers Wasser gesprungen!“

„Wintersitze“, sagte Jelisaweta, „das sind kleine Blockhäuser in der Taiga, dort, wo man nicht mal mit einem Hubschrauber hinkommt. Von da aus streifen die Jäger durch den Wald und schießen die Bären, Zobel, Wildkaninchen, die Eichhörnchen und viele andere Pelztiere.“

„Warum fährst du nicht mit?“, fragte Mischa Mikul.

„Da gibt’s keine Schulen“, sagte Jelisaweta. „Früher sind die Kinder noch mitgenommen worden, aber dann konnten sie nichts lernen, und aus ihnen konnte nichts werden. Darum bleiben sie heute hier in den Sommerdörfern, wo es große Schulen und Internate gibt. Und die Eltern ziehen allein fort ...“

„Und wie lange?“, fragte Mischa schnell.

„Sehr lange“, sagte Mikul. „Ein halbes Jahr und manchmal auch länger.“

„Und die ganze Zeit bleibt ihr hier allein?“

Mikul lächelte wie ein weiser Großvater und sagte: „Allein sind wir doch nicht. Manchmal bleiben auch die Mütter hier. Und alle anderen Kinder sind da und die Lehrer und die Freunde.“ Mischa schwieg. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er über ein halbes Jahr ohne Vater und Mama leben sollte, selbst in einem noch so schönen Internat, Aber das war wohl bei den Fischern und Jägern der Chanten und Mansen nicht zu ändern; die Pelztiere lebten nun einmal in der Taiga und nicht in einem Schulgarten.

„Wenn die Jäger zurückkommen“, sagte Jelisaweta, „im Frühling, dann wird ein großes Fest gefeiert; der Bärentanz wird aufgeführt, und es gibt Bärenschinken zu essen, und überall im Dorf ist ein Trubel, dass du dich gar nicht sattsehen kannst!“

Mikul zeigte Mischa noch die Internatsschule des „Sommerortes“ mit der großen Turnhalle und den vielen Wohnhäusern für die Kinder. Dann gingen sie nach Hause, und Jelisaweta packte ihren Koffer für die Reise nach Leningrad.

Für den Abend hatte Mikuls Vater sich was Besonderes ausgedacht.

„Jungs“, sagte er, „zieht euch warm an.“

Mikuls Mutter brachte für jeden eine dicke Pelzjacke. Über die Füße streiften sie dünne Fellstiefel, auf die wiederum Filzstiefel gezogen wurden. Mischas Beine waren so schwer, dass er dachte: Bestimmt kann ich nicht einen Schritt gehen. Doch konnte er zeigen, dass ihm das Gehen schwerfiel? Mikul und sein Vater liefen in den klobigen Dingern herum, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt.

Mikuls Vater hängte ein Gewehr um und gab jedem ein großes Fernglas, stülpte sich und den beiden Jungen Pelzkappen auf und rief: „Auf geht’s.“

Draußen schwang er sich auf ein himmelblaues Motorrad, Mischa durfte hinter ihm sitzen und Mikul im Beiwagen.

„Viel Glück“, sagte Mikuls Mutter, die rauchend in der Tür stand.

Sie knatterten los. Weit hinter dem Dorf, als die Lichter der Häuser im dunklen Dunst verschwunden waren, ließen sie das Motorrad am Waldrand stehen.

„Leise“, sagte Mikuls Vater und ging vorsichtig vor ihnen her. Mischa hörte nicht einen einzigen Zweig knacken, wohin Mikul oder dessen Vater mit ihren schweren Stiefeln auch traten. Dagegen raschelte und knickte es unter seinen Schritten dauernd. Er hätte sich die Augen aus dem Kopf schämen können. Ein Glück, dass es dunkel war und die beiden anderen nicht sehen konnten, wie er vor Wut rot wurde. Das waren Jäger wie aus dem Abenteuerbuch. Aber er?!

Sie waren schon weit in den Wald eingedrungen. Überall quiekte und quakte es; Tiere meldeten sich, die Mischa nicht kannte. Mikuls Vater blieb an einer Lichtung stehen, hielt den Kopf schief und lauschte. So machte es auch Mikul. Fast gleichzeitig gaben sie ihm ein Zeichen mit der Hand, und alle drei ließen sich hinter einem moosigen Erdwall voller Gesträuch nieder. Mischa merkte, wie kalt die Erde war. Mikuls Vater legte das Gewehr neben sich und hob schweigend sein Fernglas an die Augen.

„Was nun?“, flüsterte Mischa, aber Mikul führte den Finger an die Lippen, und da war Mischa ganz still und nahm sich vor, jetzt keinen Mucks mehr zu sagen, Mikuls Vater formte indessen die Hände wie eine Muschel vor dem Mund und gab einen Laut von sich, der wie der Schlusston einer rostigen Sirene klang. Aber genau wusste Mischa das nicht. Es war ihm bloß so eingefallen.

Diesen Laut hatte Mischa vorhin schon aus weiter Ferne gehört und war natürlich gespannt, was nun geschehen würde.

Mehrmals „rief“ Mikuls Vater in diesem Ton, und endlich hörten sie ein Echo, gar nicht weit weg. Mikuls Vater wies auf den gegenüberliegenden Rand der Lichtung. Mischa hob sein Fernglas an die Augen und starrte hindurch, aber er sah nur wirres Gesträuch, bis Mikul zu ihm herüberlangte und am Einstellring drehte.

Das Bild wurde scharf: eine Baumreihe und Dickicht dahinter. Sonst nichts? Mischa war enttäuscht. Er wollte schon das Glas absetzen, da hörte er wieder jenen merkwürdigen Laut, diesmal noch näher. Und plötzlich sah er ein riesiges Tier durch die dichten Sträucher zwischen den Stämmen hervorkommen. Grau sah es aus und hatte hohe Vorderbeine. Darüber saß ein mächtiger Leib. Der kräftige Hals mit einer dicken Wamme trug einen schmalen Kopf mit langer Schnauze. Auf dem Kopf aber ragte ein so breites Geweih, wie Mischa es nicht mal im Museum gesehen hatte. Die zwei gewaltigen Schaufeln hätten das Motorrad von Mikuls Vater aufnehmen und umhertragen können. Das Tier schaute sich vorsichtig um, rieb sich an den Bäumen und stieß noch einmal den rostigen Schrei aus. Dann schnob es, und der weiße Atem stand in der kalten Nachtluft. Jetzt wusste Mischa auch, was das war: Ein Elch war das, ein Elch von solcher Größe, wie Mischa ihn noch in keinem Tierpark gesehen hatte, und hier lief er einfach so herum. War das ein Brocken! Nach einer Weile verschwand das Tier zwischen den Bäumen und Sträuchern. Mikuls Vater erhob sich geräuschlos, auch Mikul. Als Mischa aufstand, knackte es gleich wieder.

„Nun, Mischa“, sagte Mikuls Vater, „wie gefällt es dir?“

„So ein Riesentier!“, sagte Mischa begeistert. „Wird es nicht geschossen?“

„Nein“, sagte Mikuls Vater. „So was Schönes schießt man nicht.“

„Und das Gewehr?“, fragte Mischa. „Warum haben Sie das Gewehr mitgenommen?“

„Nur so“, sagte Mikuls Vater.

Aber Mikul flüsterte, als sie wieder auf dem Weg zum Motorrad waren: „Wegen der Bären hat er’s mitgenommen, sicherheitshalber bloß.“

Zu Hause tranken sie warme Milch, und Mikuls Vater legte auf dem Tisch mehrere kleine und große Messer zurecht. Er zündete sich eine Pfeife an, holte einen Karton hervor, in dem kleinere und größere Scheiben und Splitter lagen, die wie Knochen aussahen, und begann mit den verschiedenen Messern flink zu schnitzen.

„Das ist Elfenbein“, sagte Mikul, und Mischa musste wohl ein so dummes Gesicht gemacht haben, dass Mikul gleich erklärte: „Weißt du, wenn man Fallgruben gräbt in der Taiga für Bären oder Wölfe, dann findet man manchmal die Knochen und Stoßzähne von den uralten Mammuts, und daraus schnitzen unsere Leute alles mögliche.“ Mischa und Mikul sahen noch eine Weile Mikuls Vater zu, aber dann wurde Mischa so müde, dass er schon am Tisch anfing zu schlafen und von dem mächtigen Elch zu träumen.

In ihrem Zimmer war es warm und gemütlich. Der elektrische Ofen knisterte, und Mischa stellte sich vor, wie herrlich das freie Jäger-, Schnitzer- und Fischerleben sein könnte.

„Mikul“, sagte er, „willst du auch Jäger werden?“

„Nein“, sagte Mikul, „ich will Arzt werden.“

„Arzt?“, sagte Mischa erstaunt. „Arzt kann jeder werden. Aber Jäger?“

Mikul sagte: „Bei den Chanten ist jeder ein Jäger, aber Arzt - das ist etwas anderes.“

Dass jeder ein Jäger war, das musste stimmen; Mikul selbst bewegte sich schon genauso lautlos wie sein Vater durch den Wald. Aber Mikul sagte: „Weißt du, was meine Schwester immer sagt, die Jelisaweta? Jäger sind wir schon über tausend Jahre gewesen, jetzt ist es Zeit, dass wir auch was anderes werden!“

Mischa wollte dazu nichts mehr sagen, vielleicht hatte Mikul recht. Wenn er daran dachte, dass Mikuls Eltern für viele Monate hinauszogen in die einsame Taigawildnis und keines ihrer Kinder zu sehen bekamen, dann konnte er doch verstehen, dass Mikul lieber Doktor werden wollte und kein Bärentöter.

 

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