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Ferien am Feuer von Egon Richter
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
11.03.2017
ISBN:
978-3-95655-459-9 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 178 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Action und Abenteuer, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Politik
Kriegsromane: Zweiter Weltkrieg, Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories, Nordostdeutschland, Zweite Hälfte 20. Jahrhundert (1950 bis 1999 n. Chr.)
Hitlerjugend, 2. Weltkrieg, Sowjetische Besatzungszone, Schüler, Neuanfang, Kriegsende, Sowjetsoldaten, Russen
12 - 99 Jahre
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Das mit Budding hatte schon ziemlich früh angefangen.

Als seine Mutter ihn zu uns in die Schule brachte, bekam er gleich seinen Spitznamen. Damals war er noch ein bisschen kleiner, sein Gesicht sah weiß und großporig aus, und er hatte eine große vorstehende Nase und dahinter kleine graue Augen, die immer hin und her huschten. Einer flüsterte: „Er sieht aus wie ein Vogel“, und von da an nannten wir ihn „Vogelkopp.“

Gleich nach zwei Tagen sagte er vor der ganzen Klasse zu unserem Lehrer, er dürfe nicht mit zum Turnen, weil er lungenkrank und zu schwach dazu sei. Immer wenn wir Sport hatten - und wir hatten sehr viel Sport - durfte Budding nach Hause gehen. Budding war ein Schwächling. Aber ein deutscher Junge war kein Schwächling, das gehörte sich einfach nicht, besonders nicht im Krieg. Und schon deshalb konnten wir Budding nicht leiden.

Immer wurde er geärgert, nicht doll, aber immer ein bisschen - so, dass er merkte, uns konnte er nicht imponieren mit seiner komischen Krankheit. Das schlimmste war, Budding ließ sich alles gefallen, er murrte und meckerte nicht, aber er wehrte sich auch nicht. Es war zum Verrücktwerden. Dabei gab er sich hin und wieder Mühe, genauso zu sein wie wir.

Zum Beispiel kam er immer mit, wenn wir in dem großen Obstgarten hinter dem Forsthaus Äpfel oder Birnen klauen gingen. Auf die Bäume kam er zwar meistens nicht rauf, doch dann bot er sich immer als Beobachter an. Aber auch dabei verpatzte er uns oft die ganze Aktion. Denn anstatt den Mund zu halten, wenn der Förster oder seine Frau hinten ins Haus oder auf ihren großen Hühnerhof gingen, schrie er, sobald er einen von den beiden sah: „Es kommt einer, es kommt einer!“ Dadurch wurden die Leute natürlich erst recht aufmerksam, wir mussten ruck-zuck runter von den Bäumen, über den Zaun und verschwinden. Und wer war schuld? Budding.

So war es öfter. Im Dienst war es noch viel schlimmer. Jedes Mal, wenn wir Mannschaftskämpfe machten, bei denen es auf Schnelligkeit und Geschicklichkeit ankam, versaute Budding durch seine Langsamkeit und Unfähigkeit der Mannschaft, der er zugeteilt war, alle Punkte. Zum Schluss wollte ihn schon keiner mehr haben. Er wurde dann einfach vom Jungzugführer einer Mannschaft zugeteilt, und dann durfte man ja nichts mehr machen. Dabei war er meistens sehr eifrig, der Vogelkopp, aber er konnte eben nicht.

Am schlimmsten war es bei einem Geländespiel, das wir gegen das Fähnlein aus der Kreisstadt machen sollten. Wir hatten uns sauber eingegraben und lagen in einer dichten Schonung, nahe an dem schmalen Waldweg, durch den der Erkundungstrupp unseres Gegners kommen musste. Wir hatten vor, den Trupp auf möglichst stille Weise gefangen zu nehmen und die Hauptmacht, die ja auf diese Weise nicht erfahren würde, wo unsere Stellungen lagen, der Reihe nach kampfunfähig zu machen.

Alles hätte wunderbar geklappt, wenn Budding nicht seinen Hustenanfall gekriegt hätte.

Es war so ein anhaltender trockener Husten. Vielleicht kam er von der vor Feuchtigkeit dampfenden Erde, auf der wir lagen oder in die wir uns eingegraben hatten. Und es hätte ja auch keiner was dabei gefunden, wenn er nicht gerade in dem Augenblick gehustet hätte, in dem der Vortrupp der anderen auf unserer Höhe war. Es nützte auch nichts mehr, dass einer zischend „Halt dein Maul, Vogelkopp!“ flüsterte und dass der, der neben Budding lag, versuchte, ihm den Mund zuzuhalten. Die anderen hatten uns schon bemerkt. Buddings Husten hatte uns verraten. Die auf dem Weg pfiffen die mit ihrer Hauptmacht vereinbarten Signale, und dann fielen sie alle über uns her. Natürlich versuchten wir uns zu wehren, auch wegzukommen versuchten wir, aber es half nichts mehr: In harten Ringkämpfen rissen sie uns die Streifen von den Ärmeln und nahmen uns gefangen. Bis auf wenige schnappten sie unseren ganzen Zug, und wir hatten klar verloren.

Hinterher mussten wir auf dem Sportplatz antreten. Die Führer machten Meldung, wir schrien „Hurra, Hurra, Hurra!“ für die anderen, und dann marschierten sie ab. Wir blieben. Es war ja gar nichts anderes zu erwarten gewesen. Es war ja vorauszusehen, dass diese verlorene Schlacht nicht spurlos an uns vorübergehen würde.

Unser Fähnleinführer hatte die Augen ganz dicht zusammengekniffen, und wir konnten uns schon ausrechnen, was nun passieren würde. Er fragte nicht nach einzelnen Schuldigen, zum Beispiel nach Budding, das war ihm ganz egal. „Alle für einen!“, sagte er nur. Und dann ging der Tanz los: zuerst lockere Reihen und Häschen-hüpf über den ganzen Sportplatz und zurück, dann Dauerlauf - zehnmal um den Platz -, dann das ganze Fähnlein in weit auseinandergezogenen Reihen Kniebeuge in vier Zeiten mit Gesang: „Nur der Freiheit gehört unser Leben ..." Als die ersten nach sechsmaliger Kniebeuge in vier Zeiten nicht mehr aufstanden - darunter natürlich zuerst Budding -, brach der Fähnleinführer die Sache ab.

Wir mussten antreten und versuchten, noch einmal wirklich stillzustehen, aber unsere Glieder zitterten vor Anstrengung. Der Fähnleinführer sah wohl auch, dass es keinen Zweck mehr hatte, uns noch durch den Ort nach Hause marschieren zu lassen. „Das wird euch ja eine Lehre sein, ihr Hammelärsche!“, sagte er und ließ uns wegtreten. Es war uns eine Lehre. Es hieß nämlich nicht bloß „Alle für einen!“, es hieß auch „Einer für alle!“.

Am Waldrand warteten wir auf Budding. Er kam angeschlichen, hustend und zusammengeklappt, aber damals konnten wir das wohl nicht sehen vor Wut und Gliederschmerzen. Immerhin hatte er uns in diese ganze Geschichte reingebracht. Er ging den Waldweg entlang nach Hause und wir ein paar Schritte hinter ihm, damit wir ihn jederzeit fassen konnten, wenn er ausreißen sollte. Aber laufen konnte er wohl nicht mehr.

An der Waldwegkreuzung umringten wir ihn und drängten ihn ab in Richtung hinter die Tennisplätze. Zuerst wollte er natürlich nicht und heulte: „Was wollt ihr denn von mir, lasst mich zufrieden!“ Aber dann wurde er still, weil er sah, dass es keinen Zweck hatte.

Wir führten ihn hinter den Tennisplätzen ein Stück weiter in den Wald, wo die große Holztoilette stand. Da schubsten wir ihn rein und verrammelten die Türen. Natürlich schrie er, klopfte gegen die Holzwände und wollte wieder raus, aber wir ließen uns nicht stören. „Da kannst du drin bleiben, bis du schwarz bist“, sagten wir, „huste doch, da störst du keinen!“

Dann gingen wir nach Hause, und unsere Glieder taten immer noch weh. Am nächsten Tag kam Buddings Mutter in die Schule und meldete alles dem Lehrer. Sie hatte ihn, Budding, wohl gesucht, als sie von ihrer Lebensmittelkartenstelle nach Hause kam und er immer noch nicht da war. Sie war zum Sportplatz gegangen, weil wir dort meist Dienst machten, und auf dem Weg zurück hatte sie Budding in dem Waldklosett schreien hören. Dann hatte sie ihn mit nach Hause genommen und ins Bett gesteckt, denn sagte sie - er wäre nun ganz und gar krank. Unser Lehrer beruhigte sie und sagte, wir würden schon was erleben.

Als Buddings Mutter raus war, ließ er sich von unserem Jungenschaftsführer die ganze Sache noch mal erzählen, und dann sagte er: „Strafe muss sein, das ist nun ganz egal.“ Und wir mussten so lange nachsitzen, bis wir jeder fünfzigmal „Die Kameradschaft ist das oberste Gebot!“ auf große DIN-A-4-Bogen geschrieben hatten.

Dann durften wir gehen, und damit war die ganze Sache für uns erledigt. Mit Budding waren wir quitt, und als er kurz vor dem Angriff wieder zur Schule kam, kümmerten wir uns genauso wenig um ihn wie vorher.

Natürlich wollte er später auch immer mit, wenn wir Streifzüge durch den Wald machten und uns Restgut der Wehrmacht zusammensuchten, das die Russen noch nicht gefunden oder liegen gelassen hatten. Meistens nahmen wir ihn auch mit, aber es kümmerte sich keiner um den Vogelkopp, und wenn wir was fanden, blieb für ihn meist nur das Schlechte und Unbrauchbare übrig. Aber das schleppte er dann mit, nur um zu zeigen, dass er zu uns gehörte. Im Grunde taugte er zu gar nichts.

 

Wir fanden die Kisten rein zufällig. Eigentlich waren wir auf der Suche nach Autoteilen und Motorrädern. Aber wir hatten wenig Glück. Das meiste, was die Flak-Kompanie, die Marine-Infanterie und das Pionierbataillon zurückgelassen hatten, war schon von den Russen aus dem Wald herausgeschleppt, abgewrackt oder weiterverwendet worden, wenn es noch zu gebrauchen war. Und nur weil wir nichts Rechtes mehr finden konnten, kamen wir so weit in den Wald, dass wir endlich beim ehemaligen Schießplatz landeten. Dort waren wir nur zweimal gewesen: einmal sollten wir beim Kleinkaliberschießen der HJ-Melder für die Einschüsse sein, und einmal hatte sich unser Jungzug ganz frühmorgens dort treffen müssen, um dem Bannführer, dem Kreis- und Ortsgruppenleiter der Partei und ein paar hohen Offizieren von der Wehrmacht und der Waffen-SS als Treiber bei einer großen Hasen- und Wildschweinjagd zu helfen. Sonst waren wir wenig hier draußen gewesen.

Der Schießplatz war ganz von hohen Buchen umgeben und von dichtem halbhohen Buchen- und Eichengestrüpp. Den drei Meter tiefen, fast fünf Meter breiten Graben, an dessen Ende die große dunkelbraune, fast schwarze Holzschießwand stand, konnte man deshalb erst sehen, wenn man dicht davorstand. Der Graben war vielleicht fünfzig Meter lang, und gegenüber von der Schießwand war wieder eine Wand, aber bloß halbhoch und mit Schießscharten, wo man die Gewehre auflegen konnte. Man konnte natürlich auch freihändig von da aus schießen. Und hier, am Anfang des Grabens, stand oben auch das kleine Holzhaus, in dem sich die aufhalten konnten, die noch nicht mit dem Schießen dran waren. Und am Standplatz und oben, rund um das Holzhaus herum, lagen die Kisten.

Sie waren außen mit grauem Blech beschlagen und manche an den Kanten schon angerostet. Sie hatten so eine Art Karabinerverschlüsse, oder wie man das nannte. Wenn man die aufmachte, und natürlich machten wir sie auf, konnte man sehen, was in den Kisten drin war. Sauber geordnet in kleinen hölzernen Gestellen, die wie Regale aussahen, lagen darin Geschosse.

Es mussten Dreikommasieben-Geschosse sein, der Stärke nach. Sie glänzten nicht, sondern sahen ganz matt und grau aus, wahrscheinlich von der feuchten Luft. Von den Vierlingsgeschützen der Marine-Infanterie konnten sie jedenfalls nicht sein, denn die hatten ein viel kleineres Kaliber. Sie konnten höchstens für Pak sein, aber Pak hatten wir hier nie gehabt. Bestimmt waren sie irgendwie fehlgeleitet, und weil man sie hier gar nicht gebrauchen konnte, denn die Küstenbatterien hatten wieder ein viel größeres Kaliber, waren sie hier hinten im Wald gelagert worden, wo sie sowieso keiner aufstöbern würde.

Hier konnten auch die Russen noch nicht gewesen sein. Sie hatten nämlich alle Munition, die sie irgendwo entdeckt und nach der sie auch mit riesengroßen Nadeln auf allen möglichen Plätzen gesucht hatten, genau wie alle Waffen - die überall herumlagen - zusammengetragen, gesprengt, kaputt geschlagen oder in den Schwarzen See geschmissen, wo sie nun verrosteten und verkamen. Die Kisten am Schießplatz hatten sie nicht gefunden.

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