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Wir treckten los! Nicht weit, mussten an die Seite ranfahren. Das sich zurückziehende Militär hatte den Vorrang. Erst im Morgengrauen erreichten wir das von unserem Ort zwei Kilometer entfernte Eichholz. Leuchtkugeln schossen in die Luft, ein Tiefflugangriff begann, kleine, Holzkisten ähnelnde Flieger brummten über uns. Wir rannten zu einem Keller. Ich stürzte. Ein davonhastender Soldat hinterließ mit seinem Stiefel eine Blutspur auf meinem Rücken. Alles um mich herum war erschütternd, unser Opa Lehmann verschwunden. Januar 1945. Die Temperaturen schwankten bei minus 15° und 20° und mehr. Unterwegs wurden die Flüchtlingstrecks alle Richtung Heiligenbeil geschickt, um über das Frische Haff aus dem von den Russen eingekreisten Kessel herauszukommen. Dort hatte man für die Auffahrt auf das Haff viele Baumstämme gelegt. Solch ein Chaos und Durcheinander konnten meine Augen nicht fassen, der Verstand nicht begreifen. Herrenlose Tiere trieben massenweise umher, vor den stehengelassenen Wagen ausgespannte Pferde. Teilweise gingen die Flüchtlinge aus der Panik heraus zu Fuß weiter, teilweise wurden sie von Militärautos mitgenommen. Links und rechts lagen Tote. Und immer wieder Tote. Die Menschen jammerten, weinten, schrien durcheinander. In diesem Durcheinander kam uns Opa Lehmann entgegen. Kaum waren wir auf dem Eis, surrten die russischen Tiefflieger heran, schossen mit ihren Bordwaffen, was das Zeug herhielt, auf die Zivilbevölkerung. Vor uns versanken mehrere Pferdewagen durch die Bombardierungen. Die Mütter mit den Kindern gingen in Sekundenschnelle unter. Die eingespannten Pferde bäumten sich nochmals auf, ehe sie in die Tiefe gerissen wurden. Fürchterliche, herzzerreißende Todesschreie - und alles verschwand unter dem Eis!
Meinem wehruntauglichen Vater hatte man einen Kompass und eine Karte vom Frischen Haff mit dem Hinweis ausgehändigt, das mit roten Fähnchen abgesteckte Eis zu umgehen, weil dort die Einbruchgefahr groß sei. Er versuchte zu helfen, wo er nur konnte.
Den hilflosen Frauen riet er eindringlich, den Pferden keinen Hafer zu füttern. Durch stundenlanges Stehen auf dem Eis quoll er im Tier, die Nieren platzten. Die Pferde, mit dem Tod ringend, schaukelten mit dem Kopf, aus dem Maul quoll Blut, bis sie jämmerlich verendeten. Weil mein Vater den Treck an der Spitze anführte, haben wir wohl überlebt. Ich wurde am Pferdewagen angebunden, musste Tag und Nacht laufen, damit ich nicht einschlief. Viele Kinder und alte Leute, die man auf dem Wagen in dicke Decken eingepackt hatte, waren morgens erfroren, blieben auf dem Eis zurück. So erreichten wir mühselig in Bodenwinkel das Land, von wo der Flüchtlingszug nach Dirschau geleitet wurde, über die Eisenbahnbrücke, weil die Brücken über die Weichsel schon gesprengt worden waren. Das war ein Gerumple und Geholpre über die Schienen! Bei Tante Mieta brach ein Wagenrad. Zum Glück konnte Vater ein Ersatzrad auftreiben.
Endlich die Brücke hinter uns lassend, trafen wir auf vollgestopfte Straßen. Nichts ging mehr. Weiter! Weiter! Die Brücke würde jeden Moment gesprengt, schrie man. Einige Soldaten rannten aufgeregt mit Fähnchen am Ufer entlang, gaben dem mit Flüchtlingen vollbesetzten Dampfer Zeichen. Vergebens. In dem Moment, als er sich unter der Brücke befand, krachte es!
Wir hörten nur noch die Schiffsirene, das Schreien der Menschen, das polternde Krachen. Die Brücke brach in sich zusammen.
Weiter ging es in Richtung Danzig!
Meine Schwester Monika erkrankte schwer - an Ruhr oder Typhus.
Wegen Angst vor Ansteckung fanden wir nachts kein Quartier mehr. Notgedrungen übernachteten wir in Ställen, kuschelten uns in wärmendes Stroh. Einmal trat eine Kuh zurück, schiss mir mitten im Schlaf auf den Kopf. Scheißfreuden!
Der Flüchtlingsstrom quälte sich weiter in Richtung Danzig. Wieder mal suchten wir eine Übernachtung. Plötzlich stand eine Tür sperrangelweit offen. Ein fürchterlicher Anblick bot sich uns. Im Schlafzimmer lag eine Frau mit ihren drei Kindern erschossen im Bett, der Mann in SS-Uniform daneben, an der Wand die Hakenkreuzfahne. Wir flohen, fanden Unterschlupf in einem Fabrikschuppen. Vor vergiftetem Wasser aus Brunnen warnte man uns ständig. Auf einem Dreifuß tauten wir Schnee im Kochtopf auf. Die Menschen des Trecks schleppten sich hungernd, frierend in Richtung Zoppot (poln. Sopot). In Schwarzdammerdorf legte sich Opa Lehmann zum Sterben hin. Im Nebenzimmer sprach Goebbels im Radio vom Sieg. Opa hackten wir mit der Spitzhacke ein Loch im Straßengraben, wickelten ihn in ein Betttuch und bedeckten ihn mit Erde.