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Für einen Moment dachte Diderot, so widersinnig es war, an d’Alembert. Gewiss stand der berühmte Mathematiker gleich ihm an der Spitze des Unternehmens, doch würde man mit ihm möglicherweise weniger grob umspringen. Aber er gab diesen Gedanken sofort wieder auf. Die Gegner waren zum Äußersten entschlossen, da halfen keine akademischen Mitgliedschaften. Zudem war der Wissenschaftler nicht eben der Mutigste.
Trotz seiner Sorgen lachte Diderot bei diesen letzten Überlegungen laut auf. Vor wenigen Tagen noch hatte d’Alembert den Freunden vorgeschlagen, das Unternehmen im Ausland fortzuführen, und ausgerechnet in dem ängstlichen Le Breton einen Gegner gefunden.
„Was meint Ihr, Monsieur”, hatte d’Alembert vorsichtig formuliert, „wäre es angesichts unserer schwierigen Situation nicht am besten, das Vorhaben anderswo zu Ende zu bringen? An gesichertem Ort? Ich habe einige Verbindungen zu Berlin, zum König von Preußen.”
Die anderen antworteten nicht gleich, doch Le Breton, anscheinend auf einen solchen Vorschlag vorbereitet, reagierte lebhaft.
„Ins Ausland? Aber Monsieur d’Alembert, wir werden doch ein Werk, auf das wir so viel Mühe verwandt haben, nicht außerhalb der Grenzen unserer Landes weiterführen.”
„Und warum nicht? Der Wissenschaft ist es gleich, wo sie zum Erfolg gelangt. Hauptsache, sie kommt zum Erfolg!”
„In Preußen wird sie bestimmt nicht mehr Freiheit haben als bei uns. Bedenkt doch, was uns Monsieur Voltaire kürzlich schrieb, der es ja genau wissen muss. Nicht nach Preußen! Preußen steckt voller Bajonette, und Athen herrscht nur am Hofe des Königs!”
Diderot taten diese Worte in der Seele wohl. Obgleich er sich über die Gründe des Verlegers, die vor allem finanzieller Art waren, keine Illusionen machte, brachte er Le Breton in diesem Augenblick große Sympathie entgegen. Er unterstützte ihn vehement, und da auch die übrigen, vor allem Madame de Geoffrin und die Buchhändler gegen eine Verlegung ins Ausland waren, musste sich d’Alembert geschlagen geben. Die Erinnerung an dieses Gespräch aber brachte Diderot zu Bewusstsein, dass es absurd wäre, den Gelehrten auch nur mit einem Teil des Materials zu belasten.
Wenn er doch wenigstens zwei Tage zur Verfügung hätte, dann könnte er versuchen, jemanden außerhalb der Stadtgrenzen zu finden, jemanden, der weniger gefährdet war. Aber er wusste - solche Erwägungen waren fruchtlos. Noch heute musste er zu einer Lösung kommen.
Plötzlich hatte Diderot eine Idee. De Malesherbes könnte vielleicht noch einmal helfen, könnte sich um einen Aufschub bemühen. Er würde ihn bitten, der Enzyklopädie noch diesen einen zusätzlichen Dienst zu erweisen. Zwar würde der Hüter des Bibliothekswesens nicht beglückt sein, wenn man ihn immer tiefer in die Angelegenheit verstrickte, er war noch jung und setzte seine Karriere aufs Spiel, die ihm bei einiger Zurückhaltung in politischen Dingen sicher schien. Doch er war auch ein Mann von aufrechter Gesinnung, und was blieben dem Philosophen sonst für Möglichkeiten? Es war die einzige Chance, die Arbeit von vielen Jahren zu retten.
Er setzte sich an den Tisch, fegte die dort liegenden Manuskripte zur Seite. Er tauchte den Gänsekiel ins Tintenfass und kritzelte einige Zeilen auf ein Blatt Papier. Streusand, kurz über die Schrift geblasen, dann rollte er den Bogen zusammen. Er ließ alles stehen und liegen, verriegelte nur zur Verwunderung seiner Frau die Tür. Sie solle auf keinen Fall jemanden in sein Zimmer lassen, erklärte er ihr, bald sei er zurück. Dann rannte er die Treppe hinunter, nahm immer zwei Stufen auf einmal und eilte hinaus in den Lärm der Straßen. Er musste das Schreiben, das er im Ärmel seines Überrockes trug, so schnell wie möglich an den Adressaten übermitteln, nur konnte er das nicht selbst tun: Die Gefahr, erkannt zu werden, war zu groß. Doch in einem Café in der Nähe wusste er einen zuverlässigen Boten, einen Burschen, der ihm für ein paar Sous schon manch guten Dienst geleistet hatte. Um diese Zeit würde der Mann bestimmt dort sein.
Diderot hastete einige Straßen entlang, bog um eine, dann um eine zweite Ecke. Da war der Eingang. Er erblickte den anderen sofort, denn der Raum war nicht groß und bloß zur Hälfte gefüllt. Viele Worte waren nicht nötig, der Philosoph erklärte nur, wie wichtig die Sache sei. Er wusste, dass der Bursche alles Menschenmögliche tun würde, um die Botschaft in die rechten Hände gelangen zu lassen.
Der Tag war grau und schmutzig. Während Diderot wartete, konnte er durchs Fenster die Bettler beobachten, die sich in die Hauseingänge drückten, die Bauchladenhändler, die trotz des miserablen Wetters versuchten, ihre Waren an den Mann zu bringen. Ein geschwätziger Alter setzte sich an seinen Tisch, ein heruntergekommener Nichtstuer, der einige Kupfermünzen eingenommen hatte und sie nun in Essen und Trinken umsetzte. Seine Kleidung war abgenutzt. Er trug eine billige Perücke, deren Pomadengeruch Diderot in der Nase kitzelte. Er hätte gern den Platz gewechselt, doch der Alte, der ihn wohl schon einige Zeit beobachtet hatte, wollte ihn offenbar in ein Gespräch verwickeln. Er redete, gewiss weil es ihm selbst nicht gut ging, vor allem über das Elend in der Welt.
„Schaut nur richtig hin, junger Herr”, sagte er mit hoher Greisenstimme, „nirgends gibt es mehr arme Teufel als hier in Paris, wo die Paläste und herrlichsten Bauwerke nur so aus dem Boden schießen. Die Straßenhändler möchten auch etwas von dem Reichtum abhaben, aber es gibt ihrer so viele, dass sie sich von ihren Einkünften kaum eine Suppe am Tag leisten können. Und die Maurer und Zimmerleute, die jene neuen Paläste bauen, sind kaum besser dran.”
Diderot konnte die Richtigkeit dieser Worte nur bestätigen. Er erinnerte sich an einen Schreiner, den er kürzlich wegen eines Artikels aufgesucht hatte. Dieser Mann wohnte mit seiner Frau und vier Kindern in einem feuchten Kellerloch, das sich unterhalb seiner kleinen Werkstatt befand. Die Familie lebte buchstäblich von der Luft, obwohl der Mann von früh bis in die Nacht hinein schuftete.
„Ich weiß”, antwortete er deshalb, „ich kenne so manchen Tagelöhner und manchen rechtschaffenen Handwerker, der mit seiner Arbeit oft nicht das Nötigste zum Leben verdient.”
Der andere hob belehrend den Zeigefinger und erklärte:
„Hört, was der große Philosoph Montesquieu sagt: ‚Damit ein einziger Mann in Frankreich mit Genuss leben kann, müssen hundert andere pausenlos am Werk sein.’ Genauso ist es und noch schlimmer. Denn wie viele von denen, die getrieben vom Hunger nach Paris kommen, finden keine Arbeit. Seht nur die Armenasyle. Sie sind vollgestopft und werden von Jahr zu Jahr mehr.”
Diderot schaute sich den Alten genauer an und kam zu dem Schluss, dass er schon bessere Zeiten gesehen haben musste.
„Ihr habt Euch mit Montesquieu beschäftigt?”, fragte er erstaunt. Seine Worte klangen fast unhöflich.
Der Alte kicherte.
„Das traut Ihr mir wohl nicht zu, junger Herr. Dann lasst Euch gesagt sein, dass sich unter manch alter Perücke mehr Wissen verbirgt als unter einem neuen Samthut. Dreiundzwanzig Jahre lang war ich Hauslehrer beim Marquis de Perillon, einem feinen Mann. Dann ist er gestorben, und seine Erben haben mich aus dem Haus gejagt. Jetzt schlage ich mich kümmerlich als Fripier durch. Als Lumpenhändler, ich! Wenn Ihr abgenutzte Kleider los werden wollt, kommt in die Rue de Mouffetard zu Maître Renard. Aber bedenkt, dass er nicht immer ein schäbiger Trödler war!”