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Ich will das nicht mehr. Jeden Tag diese sinnlose Nörgelei. An allem bin ich immer schuld. Nichts mach ich ihnen gut genug. Egal, ob es bloß ganz Alltägliches wie der Abwasch ist oder mein Zimmer, wo es nicht aufgeräumt genug ist. Ich kriege immer alles um die Ohren gehauen wie eine, die klaut oder was anzündet. Oder sich rumtreibt und mit Bengels abgibt. Mein ach so süßer kleiner Bruder kann sich alles erlauben. Bringt er ’ne schlechte Note nach Hause, heißt es: „Das war bloß ein Ausrutscher. Jeder hat mal ’nen schlechten Tag.“
Von mir erwartet man, dass ich jedes Mal ’n Einser bringe. Wenn nicht, heißt es gleich, dass ich das Nest beschmutze. Von einer Reichwald wird erwartet, dass sie zu den Besten gehört. Am besten die Beste ist. Ich darf mir keinen Ausrutscher erlauben. Das vertragen sie nicht. Darin sind sie sich einig. Sonst streiten sie sich um jeden Kleinkram. Schreien sich an. Diese Reichwalds, die so wohlgeraten scheinen. Nach außen. Alles nur Schein.
Aber ich will nicht dazu gehören, habe meine eigenen Erwartungen und Vorstellungen vom Leben. Davon will ich mich nicht abbringen lassen. Deswegen packe ich meine Sachen. Einige Klamotten und mein Gespartes. Das habe ich heimlich gebunkert.
Die glauben tatsächlich, mit fünf Euro die Woche machen sie mich reich. Ahnen ja nicht, dass Oma mir dazu gibt, und nicht bloß ’n Fünfer. Außerdem habe ich Flaschen und Altpapier gesammelt. Was sie wissen sollen. Denn das ist wieder gegen die Reichwald-Würde.
Haben die sich schon mal gefragt, womit ich mein Handy finanziere? Wo sie doch so großen Wert drauf legen, dass ich es immer bei mir habe und öffentlich sehen lasse. Vergessen sogar nicht, mich jeden Tag zigmal anzurufen, damit man es hört und sieht. Bin schließlich eine Reichwald. Wie sie. Nicht reich an Wald, aber an Angabe.
So scheinheilig geht es bei ihnen zu.
In der Nacht verschwinde ich. Das ist beschlossene Sache. Nachdem ich den Kühlschrank geplündert habe. Haue ab auf leisen Sohlen, damit mich mein ach so süßer kleiner Bruder nicht hört und mich nicht verpfeifen kann.
Soll‘n sie doch ’ne Vermisstenmeldung loslassen. Wahrscheinlich aber nicht vor Mitternacht. Aber dann bin ich über alle Berge. (Bei uns gibt es nur zwei kleine Hügel.) Auf der Rückseite der alten Scheune auf dem Feld weiß ich ’n loses Brett. Da zwänge ich mich durch. Zwei, drei Tage warte ich dort ab, dann geht’s weiter.
Aber da fällt mir was ein.
Ja, das ist es. Das tut dann richtig weh.
Also warte ich bis Mitternacht ab, wenn alle richtig weggetreten sind.
Dann gehe ich hinüber, wecke ihn und sage: „Du musst nur still sein, dann fängt gleich ein richtiges Abenteuer an. Das wünschst du dir doch immer. Jetzt ist es so weit.“
Er blinzelt und findet sich noch nicht zurecht. „Ein Abenteuer?“, fragt er und sucht schon seine Sachen zusammen. Wie jeden Abend sind sie überall im Zimmer verstreut. Das sollte ich mir mal erlauben. Aus dem Bett würden sie mich jagen und nicht eher wieder losgehen, bevor ich die Klamotten ordentlich aufgeschichtet habe.
Ich halte meinen Finger auf die Lippen, und gehorsam macht er es ebenfalls. Ich zeige ihm, wie er auf Zehenspitzen schleichen soll. Das gefällt ihm und damit beginnt für ihn das schon lange erträumte Abenteuer.
Geräuschlos kommen wir bis an die Haustür, die ich leise öffnen kann. Dann haben wir das Nachtdunkel erreicht.
Er greift nach meiner Hand. Seine Finger werden zur Klammer. „Wohin gehen wir?“, fragt er, aber ich zische nur wie ein Tier, das vielleicht nachts umherstreift. Ich spüre seine Angst und freue mich. Das gehört zu meiner Rache. Aber dann überlege ich, an wem ich mich rächen will. An ihm? Oder doch an den Alten, die mich wie den letzten Dreck behandeln und ihn wie einen Schatz?
Kommt auf dasselbe raus, denke ich, aber der größere Schreck bleibt für sie, wenn sie es mitkriegen. Ihr süßer Kleiner. Weg ist er.
Der Feldweg ist Matsch vom letzten Regen. Quietscht unter unseren Schritten. Vor uns leuchten zwei grüne Augen und vor Angst reißt er sich von mir und bleibt stehen. Wie angewurzelt.
„Nur ein Fuchs“, sage ich, ohne zu wissen, ob Fuchsaugen nachts grün leuchten. „Bald sind wir da!“
Wieder will er wissen, wohin wir gehen.
Die Wand der Scheune hebt sich hell ab. Ich stelle ihn vor mich und zeige hin.
„Was ist da? Gibt es dort ein Bett? Ich bin ganz müde.“
„Du wolltest doch immer mal im Heu schlafen. Jetzt kannst du’s. Dort liegt alles voll davon.“