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Meine abendliche Ankunft in Mailand ist von Schwierigkeiten begleitet, einem, wie sich dann erweist, unnötigen Umsteigen, der Qual des schweren Koffers, dem Kaufen eines U-Bahn-Fahrscheins, das sich zu einer Farce auswächst, weil ich kein Kleingeld habe. Schließlich lasse ich nach bewährter Manier den Koffer in der Gepäckaufbewahrung und ziehe mit leichter Bagage los, ein Hotel zu suchen. Vor Müdigkeit nehme ich das erste beste, es macht einen teuren Eindruck, aber wie wohltuend, wenn dir der Hausdiener mit sanfter Hand einen Taschenriemen von der Schulter nimmt, den Fahrstuhl mit dir besteigt und freundlich erklärt, das Zimmer liege zwar im sechsten Stock, sei dafür aber weniger laut.
Sechster Stock. Gegen neun Uhr abends. Ich dusche und mache mich für eine ausgiebige Nachtruhe zurecht. Während ich mir das Gesicht mit Creme einreibe, wundere ich mich, dass ein paar riesige Fliegen wie besessen durch das Zimmer sausen, und finde naserümpfend, dergleichen sei in der Luxusklasse eigentlich unerhört. Da geschieht es. Das Haus bebt. Mit metallischem Knirschen und dumpfem Donnern schlägt der Fahrstuhl in seinem Schacht hin und her. Die Gardinen wehen, der Fußboden schwankt wie das Deck eines Schiffs, meine Tasche kippt vom Tisch.
Ich bin starr vor Angst, sitze auf dem ächzenden Bett und halte mich fest. Nach einigen Sekunden ist es vorbei. Totenstille. Und keine Fliege mehr zu sehen.
Mit aufeinandergeschlagenden Zähnen raffe ich meine Tasche vom Fußboden, werfe meine Kleider über, zögere. Erdbeben gibt es doch in dieser Gegend nicht. Oder? Habe ich eine Halluzination gehabt? Mein Blick schweift noch einmal durch dies grässliche Zimmer. Die Jalousie, die vorhin gerade war, hängt jetzt schief in ihrer Führung. Da reiße ich die Tür auf und renne die Treppen hinunter, so wie ich als Kind beim Fliegerangriff in den Keller gerannt bin.
Die Hotelhalle ist voller Menschen. Ich kannte das Wort vorher nicht, aber verstehe es sogleich: il terremoto. Das Erdbeben. Also doch. Portiers und Geschäftsführer tun, was Portiers und Geschäftsführer in aller Welt gewöhnlich in solchen Situationen unternehmen: Sie beruhigen und beschwichtigen. Die Ausläufer eines ganz fernen winzigen Bebens, sicher. Das Hotel sei erdbebenfest gebaut, eine vorzügliche Konstruktion. Die Herrschaften sollten bitte auf ihre Zimmer zurückgehen, kein Grund zur Beunruhigung, alles sei vorbei ...
Da ich es auf die Dauer zu dumm finde, in der Halle herumzustehen, gehe ich nach einer Viertelstunde wieder die sechs Treppen hinauf. Keine Macht der Welt wird mich bewegen, in diesen furchtbaren Fahrstuhl zu steigen. Ich schlafe unruhig, erwache kurz nach Mitternacht, wie ich glaube, vor Hysterie. Aber später erfahre ich dann, dass die Erde um diese Zeit in der Tat noch einmal leicht gebebt hat. Erst gegen Morgen schlafe ich ohne Angst ein. Meine erste Tat am nächsten Tag ist, mir ein anderes Hotel zu suchen.
Aus der Abendzeitung erfahre ich dann, was wirklich geschehen ist, was sich in Friuli und anderen Teilen Norditaliens ereignet hat. Ich fühle, wie mir eine Gänsehaut über den Rücken läuft. Eigentlich hatte ich gestern vor, noch weiter in den Norden zu fahren, zum Gardasee ... Die Zeitung berichtet vorerst von sechshundertsechzig Toten. Halb Mailand, heißt es, sei aus den Häusern geflohen, vor allem die Bewohner der Hochhäuser im Neubauviertel.
Auf dem Domplatz ist eine fliegende Ambulanz eingerichtet, wo man für die Opfer der Katastrophe von Friaul Blut spenden kann. Die Leute stehen Schlange davor.
Und mit der törichten Beschwichtigung, dass ich nun mein Erdbeben erlebt habe und mir nichts mehr passieren könne, fahre ich zurück in mein neues Quartier. Die paar Tage bis zum Abflug meiner Maschine nach Haus werde ich schon überstehen.