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Jasper sah das Reh zuerst. Es stand über ihm auf einem Abhang, dessen felsige Risse und Spalten vereist waren, und äugte herunter. Es hatte einen weißen Fleck auf der Stirn und trug das stumpfe, graubräunliche Winterfell.
Jasper legte seinem Begleiter die Hand auf den Arm und zeigte ihm das Tier. Bonte blieb stehen und begann, sich eine Pfeife zu stopfen. „Da kann er nicht weit sein“, sagte er, „das ist Sissi, gleich wird Bodo auftauchen, sie bleiben immer in der Nähe, der Hund achtet auf das Reh.“ Er pfiff hoch und gellend, setzte die Pfeife in Brand und paffte in kurzen, schnellen Zügen. Das Reh stand reglos. Dann drehte es sich langsam und zeigte seinen Spiegel.
Ein Hund bellte. „Du siehst, wir tun wieder mal alles für unsere Gäste“, sagte Bonte, „gleich wird dein Vater erscheinen, gut sieht er aus, er schläft wenig, na schön, aber er verträgt schon wieder meinen Schnaps.“ Das hieß viel. Bonte braute aus den Kräutern des Waldes einen starken Tropfen. Den kannte Jasper, den hatte er mit Anke schon oft probieren müssen, das erste Mal nach dem bestandenen Abitur.
Bonte war Lehrer für Physik an einer Oberschule in der Kreisstadt, der ehemalige Holzfäller und Bürgermeister und Landrat hatte Pädagogik studiert und fuhr schon seit vielen Jahren täglich mit seinem klapprigen Motorrad in die Stadt, erfand, knobelte für die Schule, lief noch immer kilometerweit durch den Wald, allein mit seinen Gedanken, trug noch immer Lederjoppe und Cordhosen. Bonte war nie langweilig, und er hielt das Leben für spannend, jede Stunde erlebte er intensiv. Man sah ihm die sechzig Jahre nicht an, er hatte ein breites Gesicht und kräftige, eckige Zähne.
Das Reh war verschwunden. Bonte stieg mit weit ausholenden Schritten den Hang hinauf, er zog sich an einem Felsbrocken empor und wollte dem ihm folgenden Jasper die Hand reichen, aber dann sah er, wie gewandt Jasper einstieg, und nickte anerkennend. Als sie oben standen, blickte Jasper auf die Armbanduhr. In einer Stunde musste er abfahren, er hatte Vater noch nicht gesprochen — dieser Schreck, als zu Hause die Nachbarn gesagt hatten, dem Vater gehe es schlecht, er sei in den Harz gefahren. Nun kraxelte er mit einem zahmen Reh und dem Hund in den Bergen umher.
„Du warst früher-schon mal gesprächiger“, sagte Bonte.
„Ich mache mir Sorgen um Vater. Er schont sich nicht, weißt du.“
„Warum sollte er sich schonen?“
„Weil er sehr krank ist.“
„Stimmt. Aber dein Vater fühlt sich nicht krank, wenn er arbeiten kann. Was sollen wir uns von diesen Medizinmännern einschüchtern lassen. Dein Vater will im Mai seine Dissertationsschrift einreichen, darum ist er geschafft.“
„Ich denke, er hat erst die Materialsammlung und die Thesen hinter sich?“
„Du weißt wenig von deinem Vater.“
„Ich habe ihn lange nicht gesehen.“
„Er hat sich wohl nie viel um dich kümmern können.“
So einen Jungen erziehen und dabei nichts versäumen, ist auch eine Aufgabe, dachte Bonte, Hannes hat immer seine Pflicht getan, aber auch diesem selbstsicheren Burschen gegenüber? Wenn er etwas sagt, klingt das unumstößlich. So ist das, ich habe das herausgefunden, ich, Jasper Schneidereit. Schickt mir den, der eine andere Meinung hat, ich werde ihn schon überzeugen. Bonte kannte alle Stationen im Leben dieses Jungen. Er hatte ihn sogar gewindelt und die ersten Schritte im Garten tun lassen — mitten in ein Rosenbeet hinein. Er hatte ihm beigebracht, wie der Hirsch ruft, und schon dem Zweijährigen vorgesagt: „Handschlag drauf, Nachbar.“ Als er achtzig Zentimeter groß war, holte ihn Jutta wieder, mindestens zweimal im Jahr aber kamen die Schneidereits ins Ehlbachtal, und Bonte erlebte, wie der Junge, von Jutta erzogen, seinen Vater anhimmelte, wie er auf hohe Bäume kletterte, in alte, stillgelegte Silberstollen eindrang, quer durch den dunklen Kiefernwald ging, allein, nur mit Kompass und Karte ausgerüstet. Jasper wollte so werden wie sein Vater. Er spielte die Geschichten nach, die ihm Jutta erzählt hatte. Bonte bangte dann mehr um den Jungen als Jutta, die sich auf ihren Sohn verließ, die ihm vertraute und ihn sogar lobte, wenn er mit zerrissenen Hosen zurückkam. Sie wurde krank und beschränkte sich darauf, Jasper zu erziehen, ihm alles mitzugeben, was sie nur konnte. Dann starb sie, die lustige Jutta. Der Junge war allein und schien wie verwandelt, als Bonte ihn wiedersah. Er bestritt alles, er opponierte, er war überheblich. Bonte fand keine Sprache, keine Verbindung zu ihm und hätte ihn ganz aufgegeben, wenn nicht dieses Mädchen Anke bei ihm gewesen wäre. Erst als er das Abitur hinter sich hatte, vor zwei Jahren, und mit Anke ins Ehlbachtal kam, war er wieder gelöster. Bonte kannte sich da nicht mehr aus. War er froh, weil er das Abitur so gut bestanden hatte? Das war vorher klar gewesen. Weil er das Mädchen hatte? Das kannte er seit vier Jahren, aber in diesem Abitursommer war mehr zwischen den beiden, entstand das, was er zwanzig Jahre vorher bei Jutta und Hannes schon beobachtet hatte: eine Liebe.
Bonte dachte: Alles will Jasper ganz machen, alles im Voraus planen. Kann er überhaupt noch träumen? Hat Jutta da nicht des Guten zu viel getan? Manchmal habe ich nicht einmal mehr Lust, mich mit ihm zu streiten.
Bonte pfiff noch einmal, nur lauter. Im Talweg tauchte ein gefleckter Hund auf, der von Zeit zu Zeit stehen blieb und sich umsah. Dann war auch das Reh zu sehen, kam heran.
„So trotten die beiden ins Dorf, wenn Bodo Brötchen holt, kannst du dir das vorstellen? Keiner geht dem andern von der Pelle, aber eines Tages wird Sissi im Walde bleiben und uns vergessen.“
Jasper lachte. Bonte und sentimental, das erlebte man selten.
„Das verstehst du nicht. Sie wäre umgekommen, wenn wir sie nicht großgezogen hätten, die Alte hatte sie verlassen, du bist eben ein Stadtfuchs, Jasper ...“