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Das muss Liebe sein.
Mein Verstand macht mir Vorwürfe, aber ich komme mir schön und glücklich vor.
Ich werde an Matti schreiben: Du, ich habe jemanden kennengelernt und glaube, bisher gar nicht gewusst zu haben, was Liebe überhaupt ist.
Das kann man nicht schreiben.
Draußen ballt sich Schnee. Im All ziehen Gestirne ihre Bahn. Feuchtigkeit dringt in Poren und Kleider. Noch nie habe ich das Wort ich so bewusst gedacht. Ich, ich bin mehr als eine Königin.
Oft wusste ich nicht, was ich von einem zum anderen Tag wollte. Heute weiß ich es: Ich will ihn wiedersehen.
Ist mein starkes Gefühl eine große Untugend?
Ich weiß: Das ziemt sich nicht, das ist frivol, du bist untreu, ein Luder, nicht verkommen, also noch zu retten; aber wenn du so weitermachen solltest, dann sieht man dich nicht mal mehr durch den Zaun an.
Das kann man von mir sagen. Die Leute können sich von mir aus die Finger steif zählen, wenn sie mir sagen wollen, was ich alles bin.
Es ist mir egal.
Über Nacht taut es. Der Boden verliert die schützende Schneedecke, aber dann setzt wieder Barfrost ein, der sich in die nackte Erde beißt.
Nun wird mir bange. Ich warte auf ein Zeichen. Hundertmal sehe ich sein Bild, in Straßen, an Haltestellen, hinter Fenstern, in unserem Zimmer. Ich werde noch tagblind.
Bang wird mir, weil ich denke: Ob er sich an mich erinnert? Ob er mich wiedersehen will? Da soll man heiter und festbleiben. Ich schreibe den Satz auf den Zettelblock in unserem Zimmer: Für mich gibt es nichts Schöneres auf der Welt als ein Liebespaar, und wenn ich jemanden sagen höre, lieben bedeutet, die eigene Freiheit und Integrität zu verlieren, frage ich, ob wir von demselben Gefühl sprechen. Der Satz stammt von Anne Philipe. Aber zur Zeit, da ich ihn noch nicht wiedergesehen habe, fühle ich mich unfrei.
Manchmal schreibt mir Mattis Mutter. Sie ist eine berühmte Briefschreiberin, sie schreibt täglich an irgendwen. Und immer steht in den Briefen an mich etwas über Matti. Matti ist ihr ein und alles. Sie tut so, als habe sie ihn persönlich aus ihrem Körper gemacht, als habe sie Lebenswichtiges geopfert, damit er entstehen konnte, Matti, ein Teil von mir, mein bestes Stück. Ich verstehe ihre Briefe, denn meine Briefe an Matti tragen zurzeit mehr Ballast als Ware.
Wie soll Frau Richards begreifen, was jetzt geschieht? Welche Kette von Gefühlen, die ich ahne: erst Überraschung, dann Schrecken, dann Verzweiflung, Vorwurf und vielleicht gar Abneigung und Hass.
Er kam, stand vor dem großen Hörsaal. Magnifizenz hatte den Handschuh gesprochen. Den Dank, Dame, begehr ich nicht. Dieser Stolz des Ritters. Und verlässt sie zur selben Stunde. Stand mein Orestes also da, ein Ritter Delorges in Jeans und wildlederner Jacke, die schon abgeschabt war, ließ sich von vielen Studentinnen betrachten, nickte ihnen freundlich zu und küsste mir beide Hände, tatsächlich beide Hände. Es durchfuhr mich wie auf dem Fasching beim Tanzen. Ich musste lächeln, weil ich an den Eliza-Dünnhorn-Effekt denken musste. Mein Lächeln war sicher dumm. Aber mir wurde heiß, mir wurde kalt, ich stand unter Strom, alle Zonen meines Körpers.
Orestes sieht aus wie einer der Jungs aus Blutige Erdbeeren. Wir liefen los, redeten wenig, als könnte reden den Zauber zerreißen. Wohin wir liefen, ich weiß es nicht. Ob wir etwas aßen an einer Bockwurstbude, ob wir etwas tranken, heißen Tee oder Grog, ich habe keine Ahnung mehr. Wir liefen wie Traumtänzer.
Orestes studiert am Fremdspracheninstitut, und Mercedes ist keine Freundin, sondern eine Kommilitonin. Also eine gute Freundin und keine Geliebte.
Wir küssten uns und ließen uns anrempeln. Dreimal liefen wir zu meinem Internat und zurück. Er spricht gut deutsch. Aber wir schwiegen meistens, Reden hätte die unsichtbaren Fäden zerreißen können.
Wenn Orestes mich anfasst, durchzuckt es mich, ich möchte die Augen schließen und fliegen. Das ist der Eliza-Dünnhorn-Effekt. Das denke ich mir, Eliza Dünnhorn kann ich nicht mehr danach fragen, aber sie hatte es mir erklärt, diese schöne alte Dame, die immer ein weißes Häubchen und weiße Spitzenkragen trug und ihr Haar in ein Netz steckte. Ich musste auf meinen Klavierlehrer warten, da fragte sie mich nach Matti und ob ich unter Strom stünde, wenn er mich mit den Fingerspitzen berührte oder die Hand gäbe. Ich musste lachen, na, unter Strom nun gerade nicht. Da erzählte sie mir, dass diese Elektrizität, dieser unsichtbare Strom das einzige und untrügliche Zeichen von Liebe sei. Mit dem Menschen musst du leben, sagte sie, ein elektrischer Schlag, wenn solch ein Mann dich berührt, schon wenn er deinen Fuß unter dem Tisch unbeabsichtigt berührt. Du musst die Augen schließen wollen und alles vergessen, jede Etikette, das Benehmen und alles, was du gelernt hast an Moral. Es hatte einen jungen Freiwilligen in ihrem Leben gegeben, im Jahr 1918, er war neunzehn Jahre alt, vier Wochen hatte sie ihn gekannt, in den vier Wochen hätte sie nicht gewusst, ob sie überhaupt gegessen, getrunken, geschlafen habe. Er war gefallen und hatte von ihrer Zuneigung nie erfahren, aber sie liebte nur ihn, heute noch. Dünnhorn, mit dem sie über fünfundfünfzig Jahre verheiratet war: eine Ehe, die aus Gewöhnung, Anpassung und Verschweigen bestand. Glauben Sie mir, Fräulein Erle, das gibt es nur einmal, der Mensch erlebt das nur ein einziges Mal, und wenn er ewig leben sollte. Wenn man das erlebt, dann weiß man erst, was Gott unter Liebe verstanden hat, als er sich dieses Gefühl ausdachte, dieser Effekt hat mit einem erogenen Stromkreis zu tun. Sie verdrehte die Augen, seufzte und dachte sicher an den jungen Freiwilligen des Jahres 1918.