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Jeder Abschied ist ein kleines Sterben von Heinz Kruschel
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
26.10.2014
ISBN:
978-3-95655-106-2 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 415 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Familienleben, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert, Belletristik/Politik, Belletristik/Action und Abenteuer
Abenteuerromane, Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Kriegsromane, Familienleben, Liebesromane, 20. Jahrhundert (1900 bis 1999 n. Chr.)
Bundeswehr, Soldatenschinder, Vietnam-Krieg, Notstandsgesetze, Nazi-Offiziere, Kriegsdienstverweigerer, Deserteur, Seilschaften
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„Ein verzweifelter Brief, Herr Pfarrer“, sage ich, „darf ich vorlesen?“

„Bitte sehr.“ Branstner steckt sich eine Zigarette an, er ist nicht viel älter als ich, vielleicht sechsundzwanzig, aber er kommt mir älter vor, älter und gesetzter und abgeklärter.

„Mein Verlobter“, lese ich, „verliert immer mehr sein Selbstbewusstsein, ich konnte ihn nach dem letzten Wochenendausgang nur mit Mühe bewegen, wieder zurück in die Kaserne zu gehen. Er wollte sich irgendwo verstecken. Ich schreibe Ihnen das so offen, weil es einmal geschrieben werden muss und weil ich glaube, dass daraus meinem Verlobten von Ihrer Seite aus keine Scherereien gemacht werden. Vielleicht ist es möglich, ihn in einen anderen Zug zu versetzen, sonst wird er eines Tages unter der Schikane des Herrn Lingner noch zusammenbrechen, ich fürchte um ihn und habe Angst, ihn zu verlieren ... Manchmal erwarte ich das Schlimmste. Er ist keiner von denen, die den Wehrdienst verweigern, er ist politisch nicht organisiert und interessiert sich nicht mehr als andere Bürger für das Tagesgeschehen, aber er weiß bald nicht mehr, woran er glauben soll ... Er ist sehr sensibel. Nachts schreit er im Traum den Namen Lingner. Bitte, helfen Sie ihm, Herr Wittig. Ich glaube, dass ein solcher Unteroffizier der Bundeswehr Schaden zufügt. Aber sagen Sie bitte meinem Verlobten nichts von diesem Brief, ich habe ihn ohne sein Wissen geschrieben. Er hätte ihn nicht gebilligt …“

Der Pfarrer schweigt, zieht an seiner Zigarre, die einen schiefen Brand hat, und dreht sie in seinen schmalen Händen. „Nun ja“, sagt er, „ein sehr verständlicher, von der Liebe diktierter Brief.“

Ist das alles, was er zu sagen hat? Aber nein, ich kenne ihn, ich weiß, dass er antworten wird, wenn seine Gedanken wohlgeordnet sind. Doris meinte, der Lingner könne sich auch geändert haben. Solche Leute ändern sich nicht. Ich habe mit Hartwich gesprochen, aber der sagte nur: „Machen Sie mir jetzt vor der großen Übung nicht unsere Leute verrückt, Fähnrich. Die Presse ist dabei, ausländische Beobachter sind eingetroffen, ich habe andere Sorgen, als mich um überempfindliche Soldaten zu kümmern. Dieser Mann soll anständig seinen Dienst versehen, dann wird er seine Ruhe haben. Und Sie sollten den Unteroffizier Lingner mal aus einer anderen Sicht sehen, er ist kein Platzeck, diese Vorstellung müssen Sie loswerden. Lingner ist von mir beobachtet worden, er verlangt nichts von seinen Leuten, was er nicht selbst vorgemacht hat. Hätten wir nur mehr solche Unteroffiziere. Kommen Sie weg von dem Schleiferdenken, Wittig. Denken Sie daran, dass Lingner das Beste will, und helfen Sie ihm dabei ... Verschwenden Sie Ihre Gedanken gefälligst an die Übung!“

Branstner könnte bald reden. Er betrachtet immer noch seine Zigarre, die schon besser brennt, und lehnt sich auf seinem Sitz zurück. Ich sehe sein Profil, ein scharf geschnittenes Profil mit hoher Stirn und kräftiger, fleischiger Nase. „Der Lingner ist ein Schleifer geblieben“, sage ich nachdrücklich.

„Ein russischer Bauer“, sagt der Pfarrer und sieht mich dabei nicht an, „der im Jahre achtzehnhundertzwölf in Moskau geblieben war und der ebenso wie seine Kameraden den Buchstaben B auf seine linke Hand gebrannt erhielt, denn Napoleon Bonaparte ließ den Buchstaben B auf die Hände aller Gefangenen brennen, dieser russische Bauer konnte eines Tages in einem günstigen Augenblick die Flucht ergreifen. Aber dann gelangte unser Bauer in das Hauptquartier der Franzosen und fragte einen Offizier, was der Buchstabe bedeutet, der da auf der linken Hand stünde. Der Franzose erklärte ihm die Bedeutung, darauf ergriff der Bauer eine Axt, trennte sich mit einem Hieb die linke Hand ab, reichte sie dem Offizier, indem er sagte: ,Da, nehmen Sie ihren Bonaparte, ich will ihn nicht, ich bleibe Russe.‘ Die Geschichte ist authentisch, Herr Wittig.“

„Sie spricht wohl eher für die Russen denn für uns, Herr Pfarrer“, sage ich, nicht begreifend, warum mir Branstner ausgerechnet jetzt von einem russischen Bauern erzählt.

„Ich meine, vielleicht denkt der Unteroffizier Lingner ein wenig so, wie dieser Russe gedacht hat: selbstlos, sich nicht schonend, an die ideellen Werte des Staates glaubend, vielleicht übers Ziel hinausschießend. Der junge Wehrpflichtige ist Worten gegenüber misstrauisch, er braucht die Tat, und die Tat lebt ihm ein Unteroffizier vor, natürlich nicht vorbildlich, er ist ein Mensch mit Fehlern wie wir alle. Lassen Sie mich aussprechen, bitte, missverstehen Sie mich nicht, ich verabscheue den Kasernenhofdrill, aber ich glaube auch, dass er kein Zeichen unserer Armee mehr ist, die Zeiten haben wir hinter uns. Unteroffizier Lingner fördert die Initiative der Soldaten, habe ich gehört. Helfen Sie ihm doch dabei, bewahren Sie ihn vor Übertreibungen und Irrungen.“

Ich höre wohl nicht recht. Das ist die gleiche Rede, die mir Oberleutnant Hartwich gehalten hat, nur in salbungsvolle Worte gepackt. Branstner enttäuscht mich, von dieser Seite aus ist nichts zu erwarten. Aber von wem überhaupt? Sie haben sich abgesprochen, die Marschroute festgelegt, was bleibt mir zu tun? Solange sich Hasenkrüger nicht persönlich über Lingner beschwert, kann ich offiziell gar nichts unternehmen.

„Ich werde gehen müssen“, sage ich. Der Pfarrer nickt und macht eine Handbewegung, indem er nach vorn weist, in Richtung des Flusses deutend, über dem Schwaden von Nebel zu sehen sind. Anscheinend sind Nebelkerzen gesetzt worden, um den Übergang vorzubereiten. Die Bewegung erinnert mich an seinen Lebenskundeunterricht im Lehrsaal, so wohleinstudiert ist die Geste. Wie oft habe ich zugehört. Wie oft habe ich an seinen Worten vorbeigehört: Wie es möglich sei, Religion mit Krieg zu verbinden, wie ein Christ den Beruf des Tötens ausüben könne und ausüben müsse, auch als Soldat müsse man beten, das sei ganz und gar nicht unchristlich, im Gegenteil, exerzieren im Namen des Herrn, das Entscheidende sei, ein Christ zu bleiben, so zu tun, dass es dem Herrn gefalle ...

Ich war mit vielen Darlegungen nicht einverstanden. Zum Beispiel nicht mit seinen Diaerklärungen. „Damit die Dinge klarer und fasslicher werden.“ Und dann zeigte er Lichtbilder über die Welt. Das Milchstraßensystem, das Leben in kleinsten Lebewesen, das menschliche Hirn, ein Embryo, Wunder der Tierwelt und Zitate, amerikanische Ledernacken bei der Kommunion, an Gott kommt niemand vorbei; und immer alles in diesem selbstgefälligen Brustton der Überzeugung: Was ich euch sage, stimmt, keep smiling, die Welt gehört uns. Gerecht ist, was ich euch sage, das Maß der Dinge wird von uns bestimmt, für Gott und Vaterland. Ein großer Geist bewirkt die Welt, der Geist, der alles geschaffen hat, die Milchstraße, das Embryo, das Hirn, die Kanonen, die Wunder der Tierwelt.

Ich war nicht einverstanden, die Dinge so simpel zu sehen, so falsch, so einseitig, aber ich habe nichts gesagt, der Branstner muss so reden, das ist sein Beruf, dachte ich. Der Kaufmann muss seine Ware verkaufen, ob er von ihrer Güte überzeugt ist oder nicht. Und der Branstner ist viel zu klug, um davon überzeugt zu sein ...

Er enttäuscht mich. Er redet, wie er reden muss. Aber diese Version kenne ich schon.

Ich hatte wieder die Absicht, um eine Rüstzeit nachzusuchen, aber ich werde es nicht tun, eine „innere Sammlung“ bringt mich auch nicht weiter. Es hat keinen Zweck.

Bei dem Verfahren gegen Lingner, während meiner ersten Rüstzeit, da hatte Branstner noch Zeit für mich, da hatte ich das Gefühl: Bei ihm bist du geborgen, kannst alles herunterreden, die Truppe ist die eine Sache, und die Kirche ist die andere Sache. Die Militärseelsorge kümmert sich nicht um die Ziele der Bundeswehr.

Das hat sich geändert. Oder hat sich nur Branstner geändert?

Die Seelsorge spielt bei uns keine selbstständige Rolle mehr, der Pfarrer Branstner sagt „Wir“ und meint sich und die Truppe, er tut jetzt so, als gehöre Gott den Soldaten der Bundeswehr, nein, es gibt keinen Unterschied mehr, die Militärseelsorge ist ein Bestandteil unserer Inneren Führung geworden.

Ich bin von Branstner enttäuscht. Ich werde mit ihm auch nicht über meinen Vater und über Doktor Hellmuth sprechen, der ja ein ganz tüchtiger Arzt sein soll. Ich kann mir vorstellen, dass der Seelsorger sagen würde, man solle mit einem solchen Mann nicht zu hart ins Gericht gehen, immerhin habe der Doktor Tausenden schon geholfen, das wiege eine Verfehlung wohl auf. So könnte Branstner sprechen. Ich will das nicht hören.

Mit Hasenkrüger werde ich sprechen, auch mit den Männern, die seiner Gruppe angehören. Vielleicht knöpfe ich mir dann den Lingner vor, eine Belehrung muss er erhalten ...

„Hoffen wir, dass Blau gewinnt“, sagt der Pfarrer lächelnd und verabschiedet sich.

„Rot darf ja nicht“, erwidere ich bissig.

Er hält meine Hand fest. „Verrennen Sie sich nicht, mein Freund, bedenken Sie, in welcher Zeit und in welcher Bedrohung wir leben, dem müssen Sie alles andere unterordnen. Heute ist die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus eine durch die geschichtliche Entwicklung bedingte Aufgabe aller Staatsbürger ...“

„Also Krieg?“

„Ich spreche auch und in erster Linie von der geistigen Auseinandersetzung. Wie wäre es denn, wenn Sie sich nach der Übung wieder einmal zur Rüstzeit bei mir meldeten, Herr Wittig?“

„Ich werde es mir überlegen, Herr Pfarrer.“ Warum bist du so feige, warum sagst du nicht, ich pfeife darauf?

Jeder Abschied ist ein kleines Sterben von Heinz Kruschel: TextAuszug