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Notke ließ die anderen Maler im Dom zurück und ging mit mir allein zum Hause seines Vetters. Ich genoss diese Vorrangstellung.
Hier auf dem Domberg wohnte der Adel Revals, der geistliche und der weltliche. Die Häuser standen misstrauisch weit auseinander und glichen kleinen Festungen.
Das Haus des Domherrn erschien mir ebenso kalt, grau und abweisend wie alle anderen Bauten in Reval. Nur das Portal war schmuckvoll aus Stein gehauen und wirkte freundlich und einladend. Das Eintreten sollte von Schönheit begleitet sein. Wenigstens eine erfreuliche Geste! Am Portal hing ein mächtiger Türklopfer aus Bronze, er hatte die Gestalt eines Löwenkopfes. Notke ließ ihn gegen die Tür fallen, dass sie erzitterte und es im Inneren eben dumpfen Widerhall gab.
Ein älterer Mann öffnete, und ich wunderte mich nicht darüber, dass sich zunächst nur ein Spalt auftat, aus dem der Mann misstrauisch auf uns blickte und uns längere Zeit groß ansah. Wortlos.
Auch Notke schwieg eine ganze Weile, ehe er dann mit fester Stimme sagte: »Ich möchte meinen Vetter, den Domherrn Dieterich Wardup, sprechen.« Endlich setzte der Mann im Inneren zu einer Rede an.
»Wartet einen Augenblick, ich werde den Herrn fragen, ob es sich so verhält, wie Ihr sagt.«
Ich wunderte mich auch darüber nicht, dass er die Tür wieder ins Schloss fallen ließ. Wir mussten draußen bleiben. Nach kurzer Zeit kehrte er zurück, öffnete beide Flügel und hatte eine freundlichere Miene aufgesetzt. »Der Herr lässt bitten.«
Wir traten in die Diele. Ich fühlte mich wie in einem Wismarer oder Lübecker Kaufherrenhaus. Ja, es war fast wie in Notkes Haus in Lübeck. An den Wänden glänzte es von prächtigen silbernen Leuchtern, auf denen gelbe Kerzen steckten, so lang und dick, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Es duftete nach Wachs und Honig. Eine breite Treppe führte in das obere Geschoss, um das eine hölzerne Galerie lief. Das Geländer war reich geschnitzt. Das Haus machte einen sehr wohlhabenden Eindruck, natürlich, aber es wirkte auch wohnlich, und das erschien mir nicht selbstverständlich. Ich atmete auf, denn ich fühlte mich endlich wohl.
»Wollt bitte die Treppe hinaufgehen«, sagte der Hausknecht, und wir folgten seiner Aufforderung. Er öffnete eine Tür, und wir betraten einen weiten, hellen Raum, in dem der Domherr hinter einem großen Tisch saß und uns gespannt entgegensah. Notke schritt sehr schnell an ihn heran, und der Domherr erhob sich.
Auf den ersten Blick fiel mir auf, wie ähnlich sich die beiden sahen. Sie mochten gleichaltrig sein. Derselbe stolze, herrische Blick aus zusammengekniffenen Augen, dieselbe Art, den Kopf zurückzuwerfen, das gleiche, ehemals dunkle, jetzt ergraute lange, dichte Haar, die gleiche gebückte Haltung, aus der sie sich jedoch blitzschnell und überraschend zu beachtlicher Größe aufrichten konnten.
»Ich bin überrascht und erfreut, Lübecker hier zu sehen«, sagte der Domherr, und es sollte gleichmütig klingen.
Aber ich hörte sehr gut: Dies war eine Höflichkeitsformel, denn selbstverständlich wusste der Domherr längst, dass ein Lübecker Schiff' im Hafen lag. Es gehört nun einmal zu den Revaler Lebensformen, wenig Gemütsbewegung zu zeigen und so zu tun, als empfinge man täglich mindestens einen Lübecker Gast.
Während sich die beiden Vettern vor der weiteren Begrüßung prüfend anschwiegen, sah ich mich im Zimmer um. So abweisend das Haus nach außen wirkte, so wohnlich und behaglich erschien es im Inneren. An den Wänden hingen große, aus Wolle geknüpfte Teppiche von einer Art, die ich noch nicht gesehen hatte, sehr bunt, sehr dick. In Wismar und Lübeck würden solche Teppiche wohl nicht sehr geschätzt.
Auch Bilder prangten an den Wänden, Heilige und Darstellungen biblischer Geschichten. Auf dem Fußboden lagen Bärenfelle. Hier würde sich Herr Notke gewiss wohl fühlen, er liebte es ja, auf Bärenfellen zu liegen. Was meinen Blick ganz besonders fesselte, war der riesige Ofen, auf dessen grünen, bunt verzierten Kacheln Geschichten erzählt wurden. Er nahm eine ganze Ecke des großen Raumes ein. Hier war es im Winter sicher noch kälter als in Lübeck oder in Wismar. Ich wäre gern näher getreten, um die Kacheln genau zu betrachten, wagte es aber nicht. Nun hatte das Schweigen ein Ende.
»Ich fr-freue mich sehr, dich zu se-se-sehen, lieber Die-Die-Diete-rich«, nahm Notke das Gespräch auf. »Eigentlich hatte ich erwartet, dich als Bi-Bischof dieser Stadt begrüßen zu können. Wann war ich das letzte Mal hier?«
Notke hielt inne und schien nachzurechnen. Dabei war es doch ganz klar, dass er wusste, wie viele Jahre seitdem vergangen waren. Er brauchte Pausen, um die Fremdheit zu überwinden, die ihn noch immer von seinem nördlichen Vetter trennte. Er musste neue Verbindungen suchen, finden und sichern.
»Ja, es sind wohl an die zwanzig Jahre, lieber Bernt«, kam ihm der Domherr zu Hilfe. »Damals warst du ein junger Meister, und ich war Sekretär des Bischofs.«
»Du bist also nicht Bischof geworden, wie alle Welt er-er-wartet hat«, fuhr Notke fort, froh über einen neuen, wenn vielleicht auch schmerzlichen Anknüpfungspunkt.
»Nein, und ich werde dieses Amt auch nie bekleiden, jetzt nicht mehr ... Bei der letzten Wahl wurde es mir mit aller Klarheit deutlich, was für einen Bischof man sich hier wünscht; jedenfalls nicht einen solchen wie mich ...«
»Warum nicht? Wie bist du denn?«, fragte Notke und freute sich, einen Faden gefunden zu haben, den man weiterspinnen konnte.
»Wie ich bin? Ich versuche die Wahrheit zu sagen. Ich liebe weite Verbindungen und Verbindlichkeiten und habe mir nicht abgewöhnen können, in dieser Abgeschlossenheit und Einsamkeit zu frieren und mich nach Wärme zu sehnen ... Nach Freundlichkeit und Herzlichkeit. Nach der Mitte ... Ich bin der Meinung, dass wir endlich unser Inseldasein aufgeben müssen, wenn wir nicht losgerissen und ins offene Meer hinausgetrieben werden wollen ... Wir dürfen die Augen vor dieser Gefahr nicht länger verschließen.«