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Flucht. Roman von Walter Kaufmann
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
26.10.2020
ISBN:
978-3-96521-270-1 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 280 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Liebesroman/Aktuelle Zeitgeschichte, Belletristik/Politik, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Biografisch, Belletristik/Familienleben
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Liebe und Beziehungen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Soziales, Zeitgenössische Liebesromane, Familienleben, Biografischer Roman, Moderne und zeitgenössische Belletristik
Liebe, Flucht, Kinder, Seitensprung, DDR, Reporter, Polizeigewalt, Alternative Szene, Hausbesetzer, Afroamerikanerin, Sängerin, Entscheidung, Freundschaft, Lebensläufe, Trennung
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„Komm rein und wärm dich auf.“ Im Laden aber war es kaum wärmer als draußen. Die Leute trugen Schals, Parkas, Lederjacken, als säßen sie im Freien. Sie rückten zusammen, um mir Platz zu machen, und setzten dann ihre Gespräche fort – auch ihnen schien zu genügen, dass ich Karin kannte. An dem Herd hinter der Theke, auf der ein Haufen Flugblätter gestapelt lag, füllte der junge Mann, der mich eingelassen hatte und den sie Charly nannten, einen Becher mit heißem Tee. Den brachte er mir. Ich nickte ihm dankend zu, wärmte meine Hände an dem Becher und trank schweigend. Noch ehe ich ausgetrunken hatte, sah ich durch das Ladenfenster eine junge Frau die Straße überqueren. Sie zerrte einen Räderkarren hinter sich her bis hin zur Bordsteinkante.

„Da ist sie“, sagte Charly – und wirklich, es war Karin. Er lief hinaus und half ihr mit dem Karren in den Laden. Erst als er sie auf mich aufmerksam machte, bemerkte sie mich. Sie lächelte nicht, musterte mich nur.

„Stimmt was nicht?“, fragte Charly.

„Ein Freund meines Vaters“, erklärte sie und begrüßte mich erst, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass nicht er mich auf ihre Spur gesetzt hatte, sondern jene Mitteilung an der Tür. „Nun ja, sehr gedrängt kann es dich nicht haben“, warf sie mir vor.

Dazu schwieg ich – sie hatte ja recht. Seit ich im Sommer die kurze Nachricht von ihr erhalten hatte, das Duisburger Verfahren gegen sie und Jens Heizenröther habe nach heftigstem juristischem Gerangel in einem Freispruch geendet, war ich der Sache nicht weiter nachgegangen. Ich mochte ihr nicht gestehen, wie sehr mich persönliche Verwicklungen in Anspruch genommen hatten, und erklärte ihr nur, bis über die Ohren in Arbeit gesteckt zu haben.

„Immerhin bin ich jetzt hier, um dir zu sagen, wie froh ich bin, dass nun alles ausgestanden ist.“

„Nichts ist ausgestanden. Die Staatsanwaltschaft fordert Revision“, sagte sie.

„Daran beißen die sich die Zähne aus!“, warf Charly ein, der zu wissen schien, wovon wir redeten.

„Das sagst du so dahin, weil du nicht drinsteckst“, entgegnete Karin leise.

„Wer aussteigt, ist frei.“

„Du und deine Sprüche!“

Karin wirkte bitter. Konnte es sein, fragte ich mich, dass sie ihr Studium aufgegeben hatte, oder was sonst meinte Charly mit seiner Bemerkung? Als ich sie danach fragte, entgegnete sie: „Auf dem Markt gibt’s kein Berufsverbot, das ist doch was, oder?“ Und während sie die Früchte aus dem Räderkarren auf den Tisch packte, gab sie mir zu verstehen, sie habe seit dem Sellhorn-Prozess keine Hoffnung mehr auf eine Lehrerstelle. „Wenn keine Berufsaussicht, wozu ein Studium! Da lob’ ich mir eine handfeste Arbeit.“

Sie schob den jetzt leeren Räderkarren hinter die Theke und brachte mehrere Körbe zu den Leuten am Tisch, die sofort wie selbstverständlich anfingen, die Früchte zu polieren und zu sortieren. Als das getan war, trug sie die Körbe in eine Kammer hinter dem Laden.

„Erstaunt dich wohl“, sagte Karin, als sie wieder zurück war.

„Dich als Marktfrau wiederzufinden – ja doch, das erstaunt mich.“

„Fast wie mein Vater“, sagte sie. „Welchen Sinn hat es denn, sich dieser Gesellschaft anzupassen? Doch wohl keinen, solange sie so ist, wie sie ist!“

„Begreife ich“, versicherte ich ihr. Mir ging Jens durch den Kopf, und ich fragte nach ihm.

„Der ist im Libanon“, sagte sie. „Die PLO braucht Ärzte.“

Noch mehr als zuvor bereute ich, mich so lange nicht um sie gekümmert zu haben. Allein um diese Lücke zu schließen, wollte ich jetzt bleiben – für kurze Zeit zumindest.

„Passt dir das, Karin?“

Es passte ihr wenig – das war zu spüren. Mir war, als sei sie durch die Fragen, die ich ihr gestellt hatte, zu dem Eindruck gelangt, dass ich Rechenschaft von ihr forderte. Eine Kluft schien sich zwischen uns aufgetan zu haben, und ich fürchtete, sie sah in mir einen unliebsamen Beobachter. Nicht mir hatte jener an die Wohnungstür gesprühte Hinweis gegolten, sondern ihresgleichen, jungen Leuten wie jenen, zwischen denen ich jetzt saß. Wahrscheinlich hatten sich die meisten von ihnen – wie Karin – aus mangelnder Perspektive vom Studium losgesagt und hielten sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser.

„Natürlich kannst du bleiben, wenn du willst“ sagte Karin.

„Mensch, Mädchen“, forderte Charly sie auf, „führ ihn doch mal durchs Haus. Damit er sieht, wie wir hier ganz machen, was uns kaputt macht.“

„Spiel du den Fremdenführer“, erwiderte sie.

Charly wies mit dem Kopf zur hinteren Ladentür. Mit einem Blick zu Karin, die sich weiterhin reserviert zeigte, stand ich auf und folgte ihm aus dem Raum in einen düsteren Gang voller Gerümpel, von wo wir zum Treppenhaus gelangten, das zugig war und noch düsterer als der Gang. Im zweiten Stock stieß er eine Zimmertür auf und schaltete eine Glühbirne an, die an einem Draht von der frisch getünchten Decke hing. Der Raum, noch unbewohnt, war instand gesetzt, die Wände tapeziert, Fensterrahmen und Fußboden gestrichen.

„Ganz wie nebenan und in den Stockwerken darüber“, sagte Charly. „Was noch fehlt, wäre eine Küche und Bad – und Geld natürlich, ein Haufen Geld.“ Er lachte. „Erstaunlich aber, wie weit man mit wie wenig kommt. Hab’ gehört, so was läuft auch bei euch.“

Die Anspielung ließ mich aufhorchen. Ich war mir nicht bewusst, auch nur angedeutet zu haben, woher ich kam.

„Siebter Sinn, was!“

„Hab’ nur ein bisschen kombiniert“, sagte er. „Bloß, dass ich noch nicht durchsehe, wie du es schaffst, hier rüberzukommen.“

Ich erklärte es ihm, ehe ich auf seine Frage einging.

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