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Am nächsten Tag hatte ich eine weite Fahrt vor, nach Haarlem, der Stadt der Blumenzwiebeln. Dort tagte die Parteileitung. Durch die größere Entfernung, die mir mein neues Quartier auferlegte, und einige Umwege, die ich wählte, um den Hauptkontrollpunkten zu entgehen, kam ich zu spät. Die Genossen waren schon in großer Sorge und atmeten bei meinem Erscheinen hörbar auf. Lebenswichtige Fragen standen auf der Tagesordnung. Der von Hitler eingesetzte Reichskommissar für die Niederlande, ein verkrachter Intellektueller aus Wien, bemühte sich, preußische Zucht und Ordnung einzuführen. Als Erstes verfügte er die Lebensmittelrationierung auf Karten. Schon hatten die Faschisten begonnen, ihre Fleischtöpfe aus holländischen Beständen aufzufüllen. Es konnte an ihrer Entschlossenheit, das Land rücksichtslos auszuplündern, kein Zweifel bestehen. Das war eine für uns peinliche Maßnahme, waren wir doch nirgends gemeldet und hatten so keine Chance, zu Lebensmittelkarten zu kommen.
Viel schlimmer aber war Seyß-Inquarts zweiter Befehl: Alle Bürger des Reichskommissariats müssen im Besitz eines Personalausweises sein. Die Parteileitungssitzung hatte nun die Aufgabe, für alle Genossen die Frage zu beantworten, wie sie zu Lebensmittelkarten und Personalausweisen gelangen.
Wegen der Lebensmittelkarten einigten wir uns schnell. Wir würden sie kraft unseres revolutionären Rechtes drucken lassen. Drucker hatten wir, und solche Papierchen würden ihnen keine unüberwindlichen technischen Schwierigkeiten bereiten.
Für die Personalausweise war dieser Weg nicht zu beschreiten, die Staatsdruckerei stand uns leider nicht zur Verfügung. Stehlen, sagte ich, das ist die einzige Möglichkeit.
Einige Genossen rümpften die Nase: Stehlen ist nichts für Kommunisten. Das war mir schon klar, aber Not kennt kein Gebot, heißt es. Wir fassten also den für eine Parteileitung der Kommunistischen Partei recht seltsamen Beschluss, den Genossen zu empfehlen, sich durch Taschendiebstähle schnellstens zu einem Personalausweis zu verhelfen. Einen Graveur, der uns die nötigen Stempel besorgte, um die Beute auf den neuen Besitzer umzufrisieren, kannten wir. Natürlich dachten wir auch an die braven holländischen Bürger, die da eines Tages erschrocken den Verlust ihres Ausweises feststellen mussten. Was halfs. Ihre Wohlanständigkeit würde ihnen rasch zu einem Ersatz verhelfen. Jedenfalls durfte es für sie weitaus gefahrloser sein, ihr Missgeschick der Polizei zu melden, als für uns, jener ohne Ausweis in die Arme zu laufen.
Die Not, die uns diesen Beschluss aufzwang, half den Genossen auch, ihn zu realisieren. Besonders als die Badesaison begann, hatten wir eine, wie Spaßvögel sagten, erfolgreiche Ernte. Es gab auch ungeschickte Genossen beziehungsweise solche, die ihre natürlichen Hemmungen nicht überwinden konnten. Sie brachten keinen Ausweis und mussten von besser geeigneten Genossen versorgt werden. Manche machten gezielte Jagden. Sie trafen irgendwo einen Menschen, der ihnen in Alter, Statur und Aussehen ähnelte. Seine Personalbeschreibung musste also auf den Jäger passen, so dass in dem begehrten Ausweis nur noch das Bild ausgewechselt zu werden brauchte. Es dauerte in einzelnen Fällen wochen-, ja monatelang, bis solche Ausweise nach Maß beschafft waren, aber es klappte im Allgemeinen. Ich selbst erwies mich als unbrauchbar im Stehlen und war froh, als mir der Parteisekretär eines Tages den wunderschönen Ausweis des Getreidegroßhändlers Mijnheer van Singel brachte, der vielleicht mein Zwillingsbruder hätte sein können. (Vielen herzlichen Dank, Mijnheer, noch nachträglich, bitte entschuldigen Sie die verursachte Aufregung, es soll ganz gewiss nicht wieder vorkommen!)