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Kopfsteinpflaster von Hasso Grabner
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
15.04.2021
ISBN:
978-3-96521-437-8 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 519 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Politik, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Familienleben
Politthriller/Justizthriller, Familienleben, Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik
2. Weltkrieg, Faschismus, Nationalsozialismus, Russland, Kommunisten, Sozialdemokraten, SED, Sowjetische Besatzungszone, Enteignung, Vertrauen, Freundschaft, Heimkehrer, Liebe, Neuanfang, Solidarität, Reparationen
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Das Weitermachen ohne Willy Schnabel war leicht und schwer zugleich gewesen. Leicht, weil die Kraft dieses Mannes ausreichte, seinen Leib zu überdauern. Schwer, weil jeder wusste, wie sehr er dennoch fehlte und immer fehlen würde. Seit jenem Sommer 1942 hatte es keinen Tag gegeben, an dem der Tote nicht vermisst worden war. Die Wasser der Zeit konnten sein Bild nicht auswaschen.

Nun ist der Tag gekommen, an dem weit über den alten Sonntag hinaus alle Erinnerungen an Willy Schnabel stärker wach werden als je zuvor. Die Partei ruft ihre Mitglieder nach zwölf Jahren finsterster Illegalität zum ersten öffentlichen Appell.

Auf diesen Appell haben sie sich an Nitzsches Krankenbett vorbereitet. Schon um Fritz dafür zu entschädigen, dass er nicht teilnehmen kann. Sie sind alle gekommen: Horst Schulze, Martin Langer, Karl Stenzel, Männe Runge, Selma Lauterbach, Mariechen Müller, Else Schnabel. Mariechen und Else gehören an sich nicht zur Zelle, doch sie haben mit ihr die ganze Illegalität verbracht. Bald werden sie irgendwo arbeiten und einer anderen Parteieinheit angehören. Jetzt zählen sie noch zu M & S, zu der Parteizelle, die zwölf Jahre hindurch ihren Zusammenhalt bewahrt und illegal gearbeitet hat.

Horst Schulze ist nicht ohne Herzklopfen zu Nitzsche gegangen. Der Gedanke, Lene zu treffen, erregt und bedrückt ihn zugleich. Sie sind sich sehr nahe gewesen, und dann ist alles, was sie verbunden hat, wie Sand durch die Finger geronnen. Nun betragen sie sich gegeneinander und vor den anderen, als ob es zwischen ihnen niemals mehr gegeben hätte als Lenes mutige Hilfe. Trotz aller Mühe gelingt es ihnen nicht, sich unbefangen und herzlich gegenüberzutreten. Das erregt Fritz und Ella Nitzsches Misstrauen. Für sie ist Horst undankbar. Die Möglichkeit, dass ihr Lenchen die Ursache für die Spannung sein könnte, schließen sie aus. Lenchen ist ein einfacher, geradliniger Mensch, ein richtiges Arbeiterkind, und Horst ist ein Intelligenzler, ein Spinner, der sich oft genug als Querkopf erwiesen hat. Aber Partei ist Partei, und Privatangelegenheiten sind Privatangelegenheiten. Beides ist streng zu trennen. Deshalb hat Fritz Nitzsche während der Parteiversammlung an seinem Bett mit keiner Silbe auf die Differenzen zwischen dem Polleiter der Zelle und der Nitzschefamilie angespielt. Er ist betont kühl zu Horst Schulze gewesen. Das ist nicht weiter aufgefallen, Fritz hat nie besondere Sympathien für Horst gezeigt.

Von Lene und dem Kind hat Horst nichts gesehen. Sie scheinen spazieren gewesen zu sein, er hat sie kommen und später auch den Jungen im Nebenzimmer schreien hören. Gern hätte er ihn einmal angeschaut und ist neidisch auf Else, Selma und Mariechen, die Mutter und Kind in ihrem Zimmer besuchen. Aus Mariechens Munde darf er sich anhören, was für ein schönes Kind an Lenes Brust liegt. Nun ja, das war auch kein Wunder. Der Bauernsohn und Oberfeldwebel Hellwig war ein schöner Mann. Horst hatte ihn in Zanzow aus seinem Heuversteck heraus mehrfach auf der Tenne stehen sehen. Verständlich, wenn sich Lene in ihn verknallt hatte.

Die Genossinnen und Genossen haben sich völlig unbefangen gezeigt. Ihnen lag spießerhafte Neugier nicht. Wo Fritz Nitzsches Tochter das Kind her hatte, war deren Sache, und es ging keinen etwas an, wenn sie sich darüber in ungewissen Worten ausließ.

Und was den Einzelnen nicht interessieren durfte, berührt die Zelle erst recht nicht. Ihre Zusammenkunft beschäftigt sich mit der Wiederaufnahme der Arbeit bei M & S und dem Fall Liebetraut. Zum ersten Tagesordnungspunkt gibt es nur eine Meinung: Anfangen. Dann beginnt der Streit, ob die Zelle Liebetraut auffordern sollte, am Parteiappell teilzunehmen. Wohl ist der ehemalige Betriebsratsvorsitzende vor 1933 ein unbelehrbarer Sozialdemokrat gewesen, aber zwölf Jahre Kampf gegen den Faschismus haben ihn mehr und mehr mit der Parteizelle in Übereinstimmung gebracht, spätestens seit dem Überfall auf die Sowjetunion gehört er ihr ohne Einschränkung an. Deswegen hat Horst Schulze sich dafür ausgesprochen, Liebetraut zum Appell mitzunehmen, um ihn in absehbarer Zeit für den Eintritt in die Partei zu gewinnen.

Er kann seinen Vorschlag nur schwer durchsetzen. Nitzsche tritt energisch dagegen auf. „Sozialdemokraten bleiben Sozialdemokraten; sobald sie ihre Suppe wieder im eigenen Feuer kochen können, schmeckt ihnen unsere nicht mehr. Du kennst die Brüder nicht, Horst.“ Dieses „Du kennst sie nicht“ kann Horst Schulze nicht widerlegen. Er ist erst im zweiten Jahr der Illegalität zur Partei gestoßen. Dennoch verficht er seine Meinung, dass Genossen wie Liebetraut zur kommunistischen Partei gehörten. „Unsere Partei hat Zehntausende Kämpfer verloren. Wie wollen wir sie ersetzen, wenn nicht mit Männern und Frauen, die sich im Kampf bewährt haben?“ Das war ein Argument, dem Else und Mariechen sofort, Martin Langer und Männe Runge nach einigem Zögern zustimmten. So war die Entscheidung gefallen. Gegen die Stimme Nitsches, bei Stimmenthaltung Karl Stenzels, wird beschlossen, Bertold Liebetraut aufzufordern, am Parteiappell teilzunehmen.

Horst ist über den Sieg nicht froh gewesen. Seine Meinung hat sich mit Hilfe der beiden Frauen durchgesetzt, die nicht bei M & S arbeiteten und der Betriebszelle in Kürze nicht mehr angehören würden. In all den Jahren hat er nicht die Autorität gewonnen, die Willy Schnabel besessen hat.

Der Streit um Bertold Liebetraut wird durch Liebetraut selbst endgültig entschieden. Er lehnt ohne Schwanken ab. „Meine Partei kommt auch wieder. Eben ein bisschen später. Die Arbeiterschaft braucht eine Sozialdemokratie. Ich möchte nicht, dass euch das Feld allein überlassen bleibt. Ihr springt mit den Leuten um, wie es euch passt.“

Kopfsteinpflaster von Hasso Grabner: TextAuszug