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In den letzten Jahren war Loth nicht oft hier gewesen, und wenn, dann nur wenige Stunden, um Grundstück und Haus in Ordnung zu halten.
Er sah, das Grasmähen war auch fällig. Es wuchs hier kein feiner Rasen, das ließen die Kiefern und Birken nicht zu. Wildgräser setzten sich durch. Doch das gefiel Loth. Auch Maria hatte es so haben wollen. Sie liebte dieses Fleckchen Sandboden mit den Kiefern und weißstämmigen Birken, den Büschen und Hecken und ihren Blumenbeeten.
Dieses Erbe Marias zu bewahren war Loth nicht gelungen, auch wenn er versucht hatte, den langsamen Angriff der zähen Wildgräser auf die Beete mit der Hacke aufzuhalten. Er öffnete das Gattertor und ging den Plattenweg entlang. Auf Marias Beeten wucherte Unkraut, und doch blühten Rosen, Astern und Herbstzeitlose. Die Herbstzeitlose, Marias Blume.
Loth schloss den Bungalow auf und riss an der Tür, die aber nicht klemmte. Der Sommer war trocken gewesen. Er schob den Holzperlenvorhang beiseite, der Geruch trockener Gräser schlug ihm entgegen. Die Tür ließ er weit offenstehen, stieß die Fenster im Wohnraum auf. In der Sonnenbahn schwebten Staubteilchen, ein leichter Windzug blähte die Gardinen und farbigen Vorhänge. Er nahm die Kissen von der Couch und legte sie ins Fenster, deckte die Betten auf und brachte die Kopfkissen ins Sonnenlicht. Das Ritual der Ankunft lief ab wie immer. Nur Loth war allein.
Er brachte Korb und Tasche ins Haus. Er streifte ein kariertes Arbeitshemd über und stieg in eine graue Manchesterhose, holte den Rasenmäher aus dem Schuppen, begann zu mähen, gedachte die Zeit bis zum Dunkelwerden auszunutzen. Der Rasenmäher, vor vielen Jahren gekauft, oft repariert, zuletzt durch die Schweißkünste Alexanders, bewältigte in gewohnter Weise die Unebenheiten des Waldbodens, spaltete Kiefernzapfen und schleuderte sie wie Geschosse durch die Gegend.
Die Sonne versank hinter dem dichten Wald am fernen Ende des weiten Feldes. Rötlich ging sie unter, und das versprach gutes Wetter für den kommenden Tag. Da hatte Loth die erste Arbeit beendet.
Der Nachbar war nicht gekommen, und Loth wusste, heute würde er auch nicht mehr erscheinen. Loth hätte gern mit Dieter Funke ein Bier getrunken am niedrigen Zaun, der ihre Grundstücke trennte. Er hatte fest mit Funke und seiner Frau Gisela gerechnet. Was sollte er hier allein? Er könnte wieder abschließen und abfahren, in einer halben Stunde wäre er in der Allee. Aber dann öffnete er doch eine Flasche Bier, seine trockene Kehle verlangte danach. Er trank bedächtig, blickte in die Sonnenscheibe, die noch zur Hälfte über den Bäumen und Büschen am Seeufer stand.
Bei solchen Sonnenuntergängen hatte Maria schweigend neben ihm gestanden, und sie hatten gewartet, bis die Sonne gänzlich versunken war und der Horizont aufflammte wie bei einer Feuersbrunst.
Einmal sagte Maria: So sah es aus, wenn Berlin brannte. Wie ein Schauspiel haben wir Kinder das empfunden. Meine Mutter hat immer die Hände gerungen und an unsere Wohnung in Weißensee gedacht. Bei einem dieser Schauspiele ist die ja auch ausgebrannt.
Maria lebte mit ihrer Mutter in den letzten Kriegsjahren in einem Dorf bei Rheinsberg. Für Maria waren es schöne Kindheitsjahre dort in den Wäldern und an den Seen.
Loth lief in der Dämmerung bis zu den Seewiesen hinunter, betrat den Holzsteg, der für alle Familien im Wäldchen genügte. Vor ihm lag glatt und kühl der See. Zwei Enten zogen ihre Bahn, keilförmig kleine Wellen verbreitend.
Er saß lange auf dem Steg.
Später zündete er im gusseisernen Ofen Feuer an, legte viel Holz auf, im Schuppen war genügend gestapelt. Er saß im Korbsessel, starrte in die zuckenden Flammen hinter der Scheibe, lauschte auf das trockene Prasseln und Knacken, und er war wie von einer Lähmung befallen. Er wollte doch aufräumen, rein Schiff machen, das hatte er sich vorgenommen.
Das Haus hier war ein Stück ihres gemeinsamen Lebens gewesen. Maria hatte das Grundstück entdeckt und sofort gepachtet. Das war Mitte der Sechzigerjahre gewesen. Am Bungalow hatten sie einige Jahre gebaut, doch sie nutzten ihn während der Bauzeit. Vor allem für die Kinder waren Haus und Grundstück gedacht. Aber der Ort wurde auch für Maria und ihn zur Zuflucht.
Loth zog die Schublade einer Kommode auf. In den letzten Jahren hatte er diese Schublade unberührt gelassen. Er nahm den Packen Fotos heraus, die Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus den ersten Jahren, die Farbfotos aus der letzten Zeit. Auf den Fotos immer wieder die Kinder und Maria, manchmal die Nachbarn und Freunde. Maria im Winter, die Pelzkappe auf dem Haar, wie eine schöne Russin; Maria im Frühling unter den Bäumen, sie versteckte Ostersachen für die Kinder; Maria im Anorak, das Haar vom Wind zerzaust; Maria im Bikini oder in kurzen Hosen; Maria im Liegestuhl, mit halbgeschlossenen Augen spöttisch in die Kamera blinzelnd.
Loth hatte die Fotos sehr lange nicht mehr in die Hand genommen.
Aus dem Kühlschrank holte er die Kornflasche, goss ein Glas voll bis zum Rand und trank und goss noch einmal ein.
Zwei Fotos legte er nebeneinander auf die Tischplatte. Sie waren nach etwa zehn Jahren ihrer Ehe entstanden. Das erste zeigte eine Gesellschaft an einem runden Tisch. Dieter Funke das Glas erhebend und dem Fotografen zuprostend, neben ihm, ein Stück Torte auf einer Kuchengabel vorzeigend, seine Frau Gisela, ein paar jüngere Nachbarn, den ernsthaft dreinschauenden Alexander mit einer Rennfahrermütze auf dem Kopf und ganz an der Seite Maria, fast nicht mehr zu bemerken, weil sie den Blick abwandte. Nur am Haar war sie zu erkennen und an einer Hand, die auf dem Tisch lag, ihrer kräftigen Hand, die zupacken und zärtlich sein konnte. So etwas gibt es ja, dachte Loth, dass im Augenblick des Fotografierens einer am Tisch den Kopf abwendet, gar nicht gemerkt hat, dass jemand mit dem Fotoapparat zugange ist. Doch Maria hatte damals bewusst ihr Gesicht verborgen, sie wollte nicht auf das Bild, sie wollte nicht von ihrem Mann fotografiert werden, sie war nicht in der Stimmung, die am Tisch herrschte.
Das Foto wurde an einem ungewöhnlich warmen Sonnabend im April aufgenommen. Wenige Wochen zuvor war in ihrem Betrieb etwas geschehen. Ein Mann, für den sie gebürgt hatte, der Modegestalter Noack, war von einer Modemesse in Italien nicht zurückgekommen, Noack arbeitete erst ein Jahr im Betrieb, und Maria sprach oft über ihn, lobte seine Fähigkeiten und Ideen. Manchmal tat sie, als hinge von ihm alles ab, was das Bekleidungswerk in den nächsten Jahren auf die Beine stellen würde. Der Mann habe die seltene Gabe, Schick und Modernität unter den normalen Bedingungen, denen die meisten Frauen im Alltag unterworfen sind, in der Kleidung zu zeigen. Zu bewundern sei, dass er, der unbestritten ein hochbegabter Modegestalter sei und leicht in exklusive Spinnereien verfallen könnte, dieser Gefahr konsequent aus dem Wege gehe. Er habe ein offenes Ohr für die Probleme und Sorgen der Frauen, was Modefragen betreffe, sehe sich im Betrieb um, in dem ja fast nur Frauen tätig seien.