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Keine Anzeige in der Zeitung. Erinnerungen von Günter Görlich
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
24.06.2022
ISBN:
978-3-96521-719-5 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 608 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Biografisch, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Politik, Belletristik/Familienleben
Biografischer Roman, Familienleben, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Liebe und Beziehungen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Tod, Trauer, Verlust, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik
DDR, Wende, Stasi, Schriftsteller, Liebe, Familienleben, 2. Weltkrieg, USA, Kriegsgefangenenlager, SED, ZK, Schriftstellerverband
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An dieser Stelle springe ich wieder vierzig Jahre zurück in meinen Erinnerungen, in den Herbst des Jahres’49.

Jener Herbst war ungewöhnlich schön und sommerlich. Ich war noch ein- oder zweimal bei Elli im Holzhaus in Bad Saarow, und nach vielen Jahren schwamm ich wieder in einem klaren See. Ich fuhr nicht mit der Bahn dorthin. Mein Onkel Erich hatte mir ein Fahrrad zusammengebaut, die Bereifung schickte mir Onkel Willi aus dem Ruhrgebiet. Ich musste ja täglich zur Arbeit nach Ahrensdorf in die Kiesgrube. So fuhr ich auf meinem neuen, alten Fahrrad nach Bad Saarow, immer auf der Autobahn in Richtung Osten, verließ sie an der Abfahrt Fürstenwalde, von dort war es nicht mehr weit bis zum Holzhaus am See. So legte ich siebzig bis achtzig Kilometer zurück, damals rollten nur wenige Autos über die Straßen des Führers, und die Radfahrer störten nicht.

Dieser warme, sonnige Herbst brachte uns schnell näher, Elli und mich.

Die Arbeit in der Kiesgrube war nicht gerade leicht, doch im Vergleich zu der im Steinkohleschacht war sie erträglich. Sie war gleichförmig, ja stumpfsinnig. Aber ich verdiente Geld, doch so recht wusste ich nicht, mit ihm umzugehen. Zum Glück hatte ich Erna, sie hatte alles im Griff, die Lebensmittelkarten, das Geld und so manches noch, das eben zum Leben damals gehörte. Sie begleitete fürsorglich meine tastenden, unbeholfenen Schritte in das zivile Leben. Und das war gut. Doch es hatte einen Nachteil, ich brauchte recht lange, um selbstständig zu werden.

Erna besorgte mir ein kleines Zimmer zwei Häuser weiter, meine erste eigene Behausung nach der Gefangenschaft, vier Wände, ein Fenster, eine Tür.

Dann meldete sich der Winter. Das Jahr ’49 näherte sich seinem Ende, die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte beginnen mit dem Jahr 1950.

Das stimmt zwar nicht, wenn man genau ist, doch die Jahreszahl 1950 ist optisch einprägsam.

Da ich das niederschreibe am Holztisch in der Englischen Planke, nähern wir uns dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Und die Böller und Raketen werden in der Nacht vom 31. Dezember 1999 zum 1. Januar 2000 hochsteigen zur Jahrhundertwende.

Meine blaue Wattejacke, ausgegeben vom Magaziner im Ural, war nicht mehr so neu, doch sie hielt zuverlässig warm. Eigentlich war sie für andere Winter gedacht.

Das erste Weihnachten nach der Heimkehr. Seltsam, ich erinnere mich nur schwach an die Feiertage. Ein Weihnachtsbaum stand in der Küche und ein Radio spielte Weihnachtsmelodien. Erna brachte Gutes auf den Tisch, das ich leider nicht so recht würdigen konnte, immer noch gewöhnt an das Lageressen. Und Bohnenkaffee gab es, besorgt aus dem Westen. Damals mochte ich dieses edle Getränk nicht sonderlich. In diesen Tagen besuchte ich Lena und Erich, Großmutter Anna und Eva.

Auch Elli war zu den Weihnachtstagen aus Berlin gekommen. Das hatte für mich Bedeutung, beherrschte mein Denken und Fühlen. Schliefen wir in jenen Tagen schon in meinem Zimmer zwei Häuser weiter? Seltsam, ich weiß es nicht.

Für den Jahreswechsel hatte sich Elli etwas Besonderes ausgedacht. Ich holte sie am Silvestertag in Pankow ab, sie hatte ein Zimmer in der großen Wohnung der Honigmanns. Ich erinnere mich, es war feuchtkaltes Wetter, kein Schnee. Wir wollten ins Zentrum, in die Marienstraße, nicht weit vom Bahnhof Friedrichstraße gelegen. Ich trug den Wintermantel, den ich von Herrn Honigmann bekommen hatte, den aus London, in dem ich mir etwas verloren vorkam. Aber in der Wattejacke, der man die Arbeit in der Kiesgrube ansah, konnte ich ja nicht zur Silvesterfeier aufkreuzen.

In der Marienstraße hatte Elli ihre Kindheit verbracht, in einer Wohnung über einem Zoo-Geschäft, das ihr Vater betrieb. Und dieses Haus trafen Bomben, es war das einzige Haus in der Marienstraße, das bis auf die Grundmauern niederbrannte. Im unversehrten Hinterhaus wohnten Ellis Freunde, mit denen wir in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hineinfeiern wollten.

Für mich wurde es eine verwirrende Nacht. Mich begrüßten junge Leute in meinem Alter. Mädchen musterten mich unverhohlen neugierig, die jungen Männer nahmen kaum Notiz von mir. Elli wollte mich in das Berliner Leben einführen, vielleicht wollte sie auch zeigen, dass sie nun auch einen Kerl hatte. Einen zu haben war nicht leicht für Frauen in jenen Jahren nach dem Krieg. Der hatte die Männer meines Jahrgangs und die vor meinem lagen arg dezimiert. Ich weiß nicht mehr, wie bei dieser Silvesterfeier das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Frauen und Männern war. Ich weiß nur, es herrschte großer Trubel in der nicht sehr großen Wohnung, es wurde viel gelacht und gesungen, Schlager, die ich nicht kannte.

Ich saß da, lächelte wohl einfältig, hatte zur Unterhaltung kaum etwas beizutragen. Ich hatte das Empfinden, jede und jeder bei dieser Feier war mir überlegen. Sie kannten das Leben in Berlin, unterhielten sich über Filme, die sie im Westteil gesehen hatten, redeten über Preise, legale und nicht legale, kannten tolle Witze, und die meisten von ihnen hatten irgendwelche Berufe.

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