Home
eBook-Shop (nur Verlagstitel)
Links
Warenkorb
„Na, als erstes muss der Baum raus. Die ganze Wohnung stinkt schon. Und dann muss ein neuer Baum her.“
Dann mehr zu sich: „Und Lembke ist nicht da.“
Vater stöhnte auf.
„Am Heiligen Abend einen Baum herbekommen. Wie soll das denn gehen? Und dann in der Stadt? Hier wachsen doch keine. Wir können doch keinen aus dem Schlossgarten nehmen!“
Ich sah in Gedanken den Großherzog meinem Vater hinterherjagen, da dieser mit einer großen Säge im hochherrschaftlichen Garten Baumfrevel begangen hatte.
Eins war klar: Ohne Baum war das Weihnachtsfest gelaufen.
Vater hatte sein Glas schon wieder geleert. Er war hilflos.
„Ich brauche Ruhe, ich muss nachdenken!“
Er ergriff die Flasche, schnappte sein Weinglas. Die Tür zum Herrenzimmer fiel ins Schloss. Der Vater war verschwunden. Mutter schaute auf uns.
„Typisch euer Vater! In der Praxis ein Held, ein Retter. Zuhause hilflos wie ein kleines Kind! Jungs, schafft den Baum raus. Mir wird schon etwas einfallen. Aber erst muss die Gans versorgt werden.“
Und sie verschwand ebenfalls.
Da lag nun der stinkende Baum. Otto und ich hielten Kriegsrat. Ein Baum musste her, das war uns klar. Nur woher nehmen, wenn nicht stehlen? Also, hier auf dem Hof würden wir keinen bekommen. Wir machten uns auf in die Stadt. Kommt Zeit, kommt Rat. Aber diesen Spruch kannten wir damals noch nicht. Vorher hatten wir unser Erspartes zusammengesammelt: 2,74 Reichsmark, ich weiß die Summe, als ob ich erst gestern das Geld gezählt hätte. Schwer war meine Tasche vom Kupfer- und Nickelgeld. Wir machten uns auf dem Weg, natürlich ohne etwas der Mutter zu sagen. Aber die polterte sowieso mit Minna in der Küche. Und Vater war nicht zu sehen. – Ihr müsst wissen, Schwerin war damals eine beschauliche Stadt. Es gab keine Autos. Statt der vielen Taxen standen Pferdedroschken vor dem Bahnhof. Und selbst die Elektrische, die sonst quietschend und kreischend bei „Sterns Hotel“ in die Kaiser-Wilhelm-Straße bog, hörte man an jenem Nachmittag kaum.
Wie eine weiße Decke, die alle Geräusche dämpfte, hatte sich der Schnee über die Stadt gelegt. Wenige Leute gingen an uns vorbei, als wir durch die Kaiser-Wilhelm-Straße mehr schlitterten als liefen. Dick vermummt waren sie und dampften aus den Mündern. Denn kalt war es an diesem Tag.
Vor der Hauptpost stand ein Maronenverkäufer. Es duftete herrlich. Doch er bot seine Früchte vergebens an.
Uns war klar, wenn wir noch einen Baum bekommen konnten, dann auf dem Schlachtermarkt. Denn dort stand immer ein Baumverkäufer. Aber auch noch heute, am Heiligen Abend, um diese Zeit? Wir hatten keinen Blick für die weihnachtlich geschmückten Ladenauslagen. Selbst der sonst obligatorische Abstecher zu Scharffenberg in die Wladimirstraße fiel aus. Riesige Ankerbausteinburgen standen in der großen Auslage, ganze Regimenter von Zinnsoldaten und eine Dampfmaschine, die mit Petroleum arbeitete. Sonst konnten wir stundenlang dem ewigen Kreisen der großen Blecheisenbahn zusehen. Heute war dafür keine Zeit.
Der bronzene Bismarck vor dem Neuen Gebäude auf dem Marktplatz hatte eine weiße Mütze über seinen Pickelhelm gestülpt. Mein kleiner Bruder wollte im Vorbeilaufen mit einem Schneeball den Helm treffen. Doch ich zog ihn weiter. Das würde uns noch fehlen, wenn Wachtmeister Stüdemann, der im Stadthaus saß, uns hoppnehmen würde.
Der Schlachtermarkt war leer! Vorne, am Durchgang zum Markt, packte eine Fischfrau gerade ihren Stand zusammen. Dann war da noch ein Glühweinverkäufer, um den noch einige vermummte Dienstleute und Arbeiter standen. Die Fischfrau hauchte in ihre verklamten Fäuste und schaute uns erwartungsvoll an.
„Wuult je noch wat?“ („Wollt ihr noch etwas?“)
Ich schüttelte nur den Kopf. Die Enttäuschung hatte mir die Kehle zugeschnürt. Für uns brach eine Welt zusammen. Meinem kleinen Bruder standen die Tränen in den Augen.
Da wieherte ein Pferd. Ganz hinten, fast vor dem Domhof, stand ein Weihnachtsbaumverkäufer. Er war gerade dabei, die restlichen Bäume auf seinen Wagen zu laden. Wer wollte auch jetzt noch einen Baum kaufen? Wenn nicht wir! Ich stieß meinen Bruder an, und wir liefen los.
Dann standen wir vor ihm. Er beachtete uns überhaupt nicht. Grimmig sah er aus. Sein Geschäft war wohl heute nicht gut gelaufen. Das sollte sich ja nun ändern.
Seine Pelzmütze hatte er tief in sein gefurchtes Gesicht gezogen. Der Kragen seines Kutschermantels war hochgeschlagen. Wir waren für ihn Luft. Doch dann nahm er uns wahr.
„Wat wullt jie?“ („Was wollt ihr?“)
Eine Schnapsfahne schlug mir entgegen.
„Wir wollen noch einen Baum kaufen“, stammelte ich.
Und mein Bruder ergänzte: „Wir haben ja einen, aber der stinkt nach Kater.“
Er musterte uns von oben bis unten.
„Juch Vadder weid wohl nich, dat de Boom uphangt ward. De is wohl so ´n Überstudierter?“ („Euer Vater weiß wohl nicht, dass der Baum aufgehängt wird. Der ist wohl ein Überstudierter?“)
„Der ist Doktor“, sagte mein Bruder stolz.
„Ok, dat noch. Heww je ok Geld mit?“ („Auch das noch. Habt ihr auch Geld mit?“), wollte der Vermummte wissen.
„Hemm we. Twei vierunsömsig!“ („Haben wir. Zweivierundsiebzig!“), erwiderte ich stolz.
Und nun ging eine Verwandlung in dem Griesgram vor. Ich musste etwas ganz Schlimmes gesagt haben. Sein Gesicht arbeitete, zeigte erst Erstaunen, dann Erschrecken.
„Sagt mal“, ihm hatte es sogar das Plattdeutsch verschlagen, „ihr spinnt wohl. Meint ihr, für nicht mal einen Taler hole ich hier noch einen Baum runter. Wisst ihr, wie spät das ist?“
Und er zeigte in Richtung Domuhr, die gar nicht zu sehen war.
„Das ist gleich vier. Ich will nach Trebbow. Ihr spinnt völlig. Haut ab. Klaut euch doch einen Baum!“
Zaghaft wollte ich mich auf Bitten verlegen. Doch er schnitt mir das Wort mit einer heftigen Handbewegung ab und wandte sich seinen Pferden zu.
Das war‘s gewesen! Wir würden Weihnachten ohne Baum feiern – also kein richtiges Weihnachten haben.
Mein Bruder heulte auf.
„Nu flennt de ok noch“ („Nun heult der auch noch“), meldete sich der Kutschermantel, und ich zog Otto fort.