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Branstners Brevier. Textzusammenstellung aus „Die zweite Menschwerdung. Überlebensphilosophie” von Gerhard Branstner
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Preis E-Book:
5.99 €
Veröffentl.:
30.08.2022
ISBN:
978-3-96521-744-7 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 176 Seiten
Kategorien:
Politikwissenschaften / Kommunismus, Post-Kommunismus & Sozialismus, Politikwissenschaften / Geschichte und Theorie, Politikwissenschaft/Essays, Politische Ökonomie, Politische Ideologien/Kapitalismus, Politische Ideologien/Demokratie, Politische Prozesse/Politische Parteien
Politikwissenschaft, Demokratische Ideologien: Sozialismus, Mitte-links, Politische Parteien, Wirtschaftstheorie und -philosophie
Sozialismus, Kommunismus, Kapitalismus, Urgemeinschaft, Marx, Engels, Lenin, Stalin, Chrustschow, Gorbatschow, Revolutionen, Kommunistisches Manifest, Gregor Gysi, PDS
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II. Der „reale Sozialismus ”

Die kapitalistische Konstellation von Tauschwert und Gebrauchswert mit der Dominanz des Tauschwerts war die Falle, in die alle „realsozialistischen” Länder getappt sind.

Statt kreative, produktive, konstruktive Öffentlichkeit als wichtigste Form der sozialistischen Demokratie zu konstituieren, wurde im Gegenteil die Öffentlichkeit als größte Gefährdung angesehen. Aber ohne sie kann der Gebrauchswert nicht zum gestaltenden Zweck werden.

Wenn der Sozialismus nach einem kapitalistischen Maß errichtet wird, können nur Kuriositäten herauskommen.

Die Macht des Sozialismus wurde in die Macht über den Sozialismus verkehrt. Das war die Sünde aller Sünden. Damit verkehrte sich die Diktatur des Proletariats in die Diktatur über das Proletariat. Die Diktatur im Sinne von Marx haben wir also bis heute nicht erlebt, aber wer nicht alles weiß hanebüchenen Unsinn über sie zu verbreiten.

Es fehlte an marxistischer Theorie, weil es an marxistischer Politik fehlte. Nicht umgekehrt. Der Sozialismus ist das Neue, er lebt von ihm und fördert, produziert es. Indem er im tödlichen Gegensatz zu seinem Wesen allem Neuen misstraute, starb er bereits in seiner Kindheit an Überalterung.

Die kapitalistische Einkreisung des Sozialismus wurde zur Selbsteinkreisung. Der Sozialismus verschloss sich gegen die äußeren Entwicklungen und endlich auch gegen die inneren, schließlich gegen sich selber. Er dörrte aus.

Ein braver DDR-Bürger ging in ein Warenhaus und verlangte Zwiebeln. „Ham wer nicht”, sagte die Verkäuferin. Da verlangte der Mann Tomaten. „Ham wer nicht”, sagte die Verkäuferin. Da verlangte der Mann eine Flinte. „Könn'se ham”, sagte die Verkäuferin, „aber was woll'n se mit der?” „Die Errungenschaften des Sozialismus verteidigen”, sagte der Mann.

Das war der beste Witz, der über den Sozialismus gemacht wurde, offenbarte er doch schlagartig einen Hauptfehler: Die Überbewertung des Schutzes gegenüber der Unterbewertung des zu Schützenden, genauer die Sicherung der eigenen Macht. Hätte man die Weisheit des Witzes befolgt, wäre der Hauptfehler zu vermeiden und der Sozialismus zu retten gewesen. Wie? Ein Witz hätte den Sozialismus retten können? Warum nicht? Ist er doch an seiner Witzlosigkeit gestorben.

Kindereien führten im Verein mit der Verbürgerlichung des wirklichen (politischen und wirtschaftlichen) Lebens zur Entleerung des Sozialismus, zum Austritt des Sozialismus aus der wirklichen Geschichte. Daran ist er kaputtgegangen. Die Vergangenheit hat die Zukunft eingeholt. Der Sozialismus wurde kapitalisiert. Die sozialistischen Parteien verbürgerlichten, die Ökonomie verbürgerlichte.

Der Stalinismus war der Geburtsfehler des Sozialismus der DDR. Einer seiner Hauptcharakteristika war die Unberührbarkeit seiner Staats-, seiner Machtpolitik. Daher konnten unerträgliche Zustände entstehen und nur in Form von Aufständen angemeldet werden. Diese Unberührbarkeit wurde an den Poststalinismus vererbt. Sie war das Haupthindernis der Reformierung des Sozialismus.

Während für Schiller die unvermeidliche Entscheidung zwischen zwei guten Seiten die größte Tragik ist, liegt die wirkliche Tragik in der Entscheidung zwischen zwei schlechten Seiten. Das offenbart der 17. Juni. Der Aufstand war objektiv zweifelsfrei eine Konterrevolution gegen den Sozialismus. Das herrschende System war aber nicht weniger konterrevolutionär, hätte es sonst den Sozialismus nicht schließlich zum Scheitern gebracht?

Historisch rechtens hätten am 17. Juni beide konterrevolutionären Seiten überwältigt werden müssen. Aber da wäre eine dritte Seite nötig gewesen, als historische Konzeption und als überwältigende Kraft. Aber die gab es nicht. Also musste man sich für eine der beiden Seiten entscheiden. Und die war der „reale Sozialismus”. Das war statt des Endes mit Schrecken immerhin der Schrecken mit einem späteren Ende. Obwohl die Blödheiten des „realen Sozialismus” die Ursache der anderen Konterrevolution waren.

Die Entscheidung zwischen zwei schlechten Seiten kommt überdies in der Geschichte öfter vor als die Entscheidung zwischen zwei guten Seiten. Auch die Wende hatte diese Tragik, nur mit umgekehrtem Ausgang.

Die Geschichte wird von Menschen gemacht, die von der Geschichte gemacht wurden. Da gibt es keine Ausnahme, aber Unterschiede, beispielsweise zwischen Lenin und Stalin. Ohne die Hunderttausende Folterknechte und die Hunderttausende Henkersknechte und ohne die Millionen der Heuchelei des Personenkults Erlegenen hätte es keinen Stalin gegeben. Das erklärt, weshalb die Jahrzehnte nach Stalin den Sozialismus nicht wesentlich über Stalin haben hinauswachsen lassen.

Auch nach ihm hat das jahrtausendalte Erbe der Klassengesellschaft dominiert.

Unsere „unfehlbaren” Führer lebten zunehmend in auf ihre Anordnung hin für sie errichteten Potemkinschen Dörfern. Um den doppelten Widersinn deutlich zu machen: Sie lebten von ungedecktem Falschgeld.

Neben dem vielen Schlimmen, das Stalin getan hat, heißt es, muss man auch in Rechnung stellen, dass er den Krieg gegen den Faschismus gewonnen hat. Abgesehen davon, dass man auch fragen muss, ob die Sowjetunion den Krieg nicht trotz Stalin gewonnen hat, steht unfraglich fest: Den Krieg gegen den Kapitalismus hat Stalin verloren, durch die Deformation des Sozialismus und die bis zu Gorbatschow reichenden Folgen dieser Deformation. Das aber ist seine historisch entscheidende Tat.

Die Behauptung, dass es keinen fähigeren Kopf als Stalin gab, ist zynisch, da Stalin sie alle einen Kopf kürzer gemacht hat.

Branstners Brevier. Textzusammenstellung aus „Die zweite Menschwerdung. Überlebensphilosophie” von Gerhard Branstner: TextAuszug