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Rückblicke auf 1989 und davor, Literatur mit Haltung sowie Verse als Zeitdokumente - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 08.08. 2025) – Manchmal ist es gut, kurz innezuhalten und zurückzuschauen. Die Wende in der DDR und die anschließende Deutsche Einheit sind inzwischen mehr als dreieinhalb Jahrzehnte her. Wie war das eigentlich damals? Wie hat sich alles entwickelt. Literarische Rückblicke in jene dramatischen Zeiten erlauben zwei der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote dieses Newsletters, die sieben Tage lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 08.08. 2025 bis Freitag, 15.08. 2025) zu haben sind. Beide Bücher stammen von dem Leipziger Schriftsteller Reinhard Bernhof.

Erstmals 2024 veröffentlicht er im projekte Verlag Halle „Die Leipziger Protokolle“. Reinhard Bernhof beschreibt in seinem Buch den Umbruch 89, der in Leipzig seinen Anfang nahm. Seine Texte leben überwiegend von der persönlichen Teilnahme an den Aktivitäten vor und in der Bürgerbewegung, in einer Zeit realer Gefahr, als die sich überstürzende Entwicklung noch keine Richtungen erkennbar werden ließ: Angst, Staunen, Mitgerissensein bis zum Mitdenken und Handeln. - Sie beginnen bei den noch voreinander verborgenen ersten Schritten von Leipzigern, die in geheimgehaltenen Wohnungen erregt Veränderungen einforderten - und sie führen Schritt für Schritt zur Begegnung mit dem eigenen Bedürfnis nach Freiheit und dem entfremdeten Mit-Bürger. - Da Bernhof einer der allerersten Kontaktmänner des Neuen Forums war, konnte er seine Beobachtungen in der direkten Begegnung mit den verängstigten und doch aufbrechenden Menschen deutlich erkennen. Die Texte schildern Starre, zögernde Öffnung, Lebendigkeit der unter Gefahr aufgesuchten und für eine demokratische Wandlung geworbenen Menschen aller sozialen Schichten und geben damit einen so differenziert noch nicht erfassten Querschnitt des tatsächlichen Verhaltens und Befindens zu diesem Zeitpunkt. Eine wesentlich mit vorbereitete Kundgebung des Anspruchs auf Legalität wird beschrieben, ebenso wie die zahlreichen „Kontaktstunden“, zu denen Bernhof seine Wohnung den bald anstürmenden Leipzigern öffnete. Weitere Texte sind der Versieglung der Staatssicherheit und von Objekten weiter bestehender Sondertruppen gewidmet, z. B. in „Rauchzeichen“. Auch diese beschriebene Aktion ist in der Öffentlichkeit bis heute so gut wie unbekannt geblieben.

Sieben Jahre später, erstmals 2011, erschien im Plöttner Verlag Leipzig in 2. Auflage „Die Sitzer. Eine authentische Skurrilität“. Das Buch war durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen ermöglicht worden.

In einem halbverfallenen Leipziger Rondell der 1980er- und frühen 1990er-Jahre entfaltet sich ein absurdes Kammerspiel zwischen Überwachung, Anpassung und widerständiger Kreativität. Der Schriftsteller Bernstein zieht in eine Wohnung gegenüber des skurrilen Mathematiklehrers Nißky - einem linientreuen MfS-Zuträger mit Schreibmaschine und Kater. Was folgt, ist ein grotesk-komischer, tiefgründiger Schlagabtausch über Staatsmacht, Freiheit, Katzen und Kinderbücher. Eine Skurrilität voller Dialogwitz und zeitgeschichtlicher Schärfe - poetisch, böse und beängstigend aktuell.

Außerdem präsentiert der heutigen Newsletter zwei weitere Bücher von Erich Weinert. Erstmals 1958 erschien in der Zusammenstellung von Willi Bredel im Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung Berlin „Vorwärts! Unsere Zeit beginnt! Gedichte, Erzählungen, Skizzen, Reden“ von Erich Weinert. Dieses E-Book ist mehr als eine Sammlung von Gedichten und Texten - es ist ein literarischer Aufschrei gegen Faschismus, Militarismus und soziale Ungerechtigkeit.

Mit messerscharfer Satire, kämpferischem Pathos und unerschütterlicher Solidarität gibt Weinert der Arbeiterklasse eine Stimme, die weit über ihre Zeit hinaus hallt. In Versen, Reden und Erzählungen zieht sich ein roter Faden des Widerstands: vom „roten Feuerwehrmann“ über den Aufruf an die Jugend bis hin zu erschütternden Bildern aus dem Spanischen Bürgerkrieg.

Diese Auswahl zeigt Weinert als engagierten Poeten, politischen Kämpfer und Chronisten eines Jahrhunderts im Umbruch - eindringlich, provokant, hochaktuell. Ein Buch für alle, die wissen wollen, wie Literatur Haltung zeigen kann.

Bereits erstmals 1950 erschien in der „Bibliothek fortschrittlicher deutscher Schriftsteller“ der Band „Stimmen aus dem Exil. Gedichte 1933 – 1943“ von Erich Weinert. Es sind Worte gegen das Vergessen.

In seinen Exiljahren von 1933 bis 1943 schrieb Erich Weinert Gedichte voller Anklage, Hoffnung und Widerstand. Mit beißender Ironie, scharfem Blick und tiefem Mitgefühl prangert er Verbrechen der Nationalsozialisten an, verteidigt Opfer politischer Gewalt und gibt den Entrechteten eine Stimme. Ob als Ballade, Appell oder Spottgedicht - Weinerts Verse sind Zeitdokumente und Mahnrufe zugleich. Dieses E-Book versammelt seine kraftvollsten lyrischen Texte aus dem antifaschistischen Kampf - heute aktueller denn je.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Was bedeutet Krieg für die Menschen im Alltag?

Aus dem Jahre 1942 stammt die Erzählung „Die weißen Handschuhe“ von Friedrich Wolf. Die Erzählung spiegelt das persönliche Leid und die Ängste der Menschen im Kriegsalltag eindrucksvoll wider. Im Zentrum steht eine erschütternde Unterhaltung zwischen zwei Frauen, deren Leben von Verlust, Tod und Hoffnungslosigkeit geprägt ist. Die scheinbar harmlosen weißen Handschuhe, die im Traum erscheinen, entwickeln sich zur düsteren Prophezeiung, während die Kriegsmeldungen unerbittlich eintrudeln. Mit scharfem Blick und eindringlicher Sprache stellt der Text die Frage: Wer trägt die Schuld an all dem Blutvergießen? Ein Werk, das heute genauso aktuell ist wie damals und die Grausamkeit des Krieges schonungslos offenlegt.

Aber was hat es mit dem im Titel genannten „weißen Handschuhen“ auf sich? Hier der Anfang der Erzählung, der deren schreckliche Bedeutung aufklärt:

„Wissen Sie, Frau Brackebusch, da ist doch die Frau vom Sievert in der Wilhelmstraße, wo der Mann im Felde war, ganz aus dem Häuschen geraten. Ich weiß, ich weiß, der Mann ist da irgendwo an der Ostfront gefallen. Die Frau hat mir doch noch kurz vorher von ihm erzählt, das heißt von einem Traum, den sie wegen ihres Mannes hatte. Die beiden haben ja sehr ordentlich miteinander gelebt, da kann man wirklich nichts nachsagen. Er war Posthelfer, ein sehr akkurater Mensch, und für ihre beiden Gören haben sie das Letzte hergegeben; wie aus dem Ei gepellt waren die.

Aber wegen des Traumes der Sieverten … da erzählt mir die Frau so vor vier Wochen, sie habe ihren Mann im Traum gesehen als Verkehrspolizist am Potsdamer Platz mit weißen Handschuhen, so wie er den Verkehr regelte: rechts, links, geradeaus!

Großartig habe er das gemacht, wie ein Feldherr, und immer mit weißen Handschuhen an den Händen … ich weiß, ich weiß, Frau Brackebusch, das hat man nachher auch der Sieverten gesagt: Weiße Handschuhe im Traum, das bedeutet den Tod! Und dann ist der Mann tatsächlich gefallen.

Aber sagen Sie mal, Frau Brackebusch, wie viele unserer Männer fallen da im Osten, ohne dass die Frauen von weißen Handschuhen träumen! Soviel Millionen weißer Handschuhe gibt es ja gar nicht bei uns, wie viel Männer von uns jetzt da allein im Osten gefallen sind!“

In „Die Sitzer. Eine authentische Skurrilität“ entfaltet Reinhard Bernhof ein pointiertes Kammerspiel voll feinsinnigem Witz, nachdenklicher Zwischentöne und subtiler Gesellschaftskritik. Die vorliegende Szene spielt auf einem Balkon, wo sich zwischen Kaffee, Katze und kleinen Katastrophen eine eigensinnige Dynamik zwischen dem fragenden Nißky und dem eigenwilligen Schriftsteller Bernstein entwickelt. Eine Leseprobe, die neugierig macht auf die vielschichtige Skurrilität des gesamten Textes.

Nißky bei Bernstein auf dem Balkon, sie trinken Kaffee.

NIßKY: Wo und wann ist denn die Idee für Ihr Buch entstanden?

BERNSTEIN: Lag irgendwo im Kopf gespeichert. – Ein Gedanke ergab den anderen. Hatte ich Ihnen schon gesagt.

NIßKY: Na gut, geb die Rezension frei.

BERNSTEIN: Frei? – Bin gespannt.

LEONORE tritt auf den Balkon, gefolgt von Kessy. Möchte noch jemand etwas! Ein Eis? Ein Glas Wein, Herr Nißky. Sieht ihn lange an.

NIßKY: Nein, nein, keine Umstände, Frau Bernstein.

LEONORE: Umstände nicht. Nimmt ein Weinglas vom Tablett, stellt es vor ihm hin, schenkt ein.

NIßKY: Oh, Hemus!

LEONORE: Du, Berni?

BERNI, aufbrausend: Du weißt doch, trink nix. Bekomm davon Kopfschmerzen …

NIßKY, seine Beine von Kessy berührt: Da ist sie ja wieder. Wollen Sie sie doch aufnehmen?

BERNSTEIN: Entscheidet sie selbst. Ist überall zu Hause – und nirgends. Gehört uns vorerst. Wir kümmern uns um sie. Ist nicht immer zutraulich. ‘ne wilde Katze ist mir lieber als … Stockt.

NIßKY: Sieht Bernstein mit großen Augen an. Ich weiß doch, dass Ihnen unser Bartholomäus nicht gefällt.

BERNSTEIN: Gestatten Sie mir meine Offenheit. Bisschen viel mit Nahrung aufgepumpt, Ihr Kater. – Dagegen bleibt unsere Kessy stundenlang fort. Setzt nichts an. – Mag sie inzwischen, weil sie mir abends beim Spaziergang manchmal nachläuft … Verschwindet Kessy, ist sie glücklich in ihrer Freiheit. Kommt sie mit, dann will sie es. So einfach ist das bei Katzen. Sie müssen immer Katzen bleiben. Sollten nicht deformiert werden bei den Hausmenschen. – Außerdem, Kessy ist vielleicht schlauer als Ihr – wie sagten Sie doch – intellektueller Kater. Was entgegnen Sie?

NIßKY sieht Bernstein eindringlich an. Wie meinen Sie das?

BERNSTEIN: Sie hat mir schon einige Male bei unseren gemeinsamen Spaziergängen ihre eigenwilligen Ansichten offeriert. Das gefällt mir an ihr, dass sie eine eigene Meinung hat, dass sie sich nicht duckt, sich nicht versteckt, wenn Besuch kommt, sich nicht überfüttern lässt. – Sie hat mich sogar vor Ihnen gewarnt.

NISKYS: Gewarnt? Blickt lange in Bernsteins Gesicht. Wie erstarrt. Löst sich aus der Erstarrung und gießt sich Sahne in den Kaffee. Rührt. Rührt so heftig, dass die Tasse umkippt. Springt auf. Ach du Schreck! Was habe ich bloß angerichtet? Nein, so was. Können Sie mir verzeihen, Herr Bernstein! Die schöne Decke … Ach du Schreck! Was bin ich für ein Trottel …

BERRNSTEIN, locker. Das kommt doch vor, Herr Nißky. Machen Sie sich keine Sorgen. Lappen her – und alles ist wieder okay. Eilt vom Balkon. Leonore tritt hinzu.

NIßKY: Nein so was. Schüttelt den Kopf.

LEONORE: Wie oft ist das den Menschen schon passiert … in der Tassengesellschaft. Stellt eine neue Tasse hin.

BERNSTEIN wieder am Tisch. Wo waren wir stehen geblieben, Herr Nißky? Ach ja, Katzen. – Ist Kessy über Nacht draußen geblieben, steht sie zumindest am Morgen vor unserer Tür –, manchmal mit zerzaustem Fell und verwundeten Ohren. Vielleicht ist sie hoffnungslos nymphoman und würde sofort Ihren Bartholomäus vergewaltigen. Ich würde nur sagen, ihre Schmerzen, ihr Winseln, ihr Jaulen möge sie entschuldigen.

NIßKY, noch immer verunsichert. Ich merke, dass Sie sehr tolerant sind.

BERNSTEIN, lange auf Kessy blickend, die dem Gespräch zu lauschen scheint: Merken Sie, sie hört uns zu. – Ihre Augen tief, durchsichtig bis auf den Grund –, und je länger ich in sie hineinsehe, desto schwerer wird es mir. Sieht eindringlich in Nißkys Gesicht. Er atmet schwer. Ist Ihnen nicht gut, Herr Nißky!

NIßKY: Nein, nein, alles in Ordnung. Das Malheur wirkt nach.

Das Licht wird dunkel und wieder hell.

Die folgende Leseprobe aus „Vorwärts! Unsere Zeit beginnt! Gedichte, Erzählungen, Skizzen, Reden“ gibt einen erschütternden Eindruck von Erich Weinerts Engagement gegen den Faschismus. In seiner Radioansprache „Ruf an die gesittete Welt“, gesendet 1938 aus dem spanischen Exil, schildert er die Bombardierung Barcelonas in drastischen Bildern. Es ist ein leidenschaftlicher Appell an Menschlichkeit und aktiven Widerstand – ein historisches Dokument von bedrückender Aktualität.

RUF AN DIE GESITTETE WELT

Radioansprache im Sender Barcelona, März 1938

Als Guernica von Hitlers Fliegern zusammengetrümmert wurde, hatte der entsetzliche Schrei der Mütter Spaniens um die Welt geschollen. Und wo in der Welt dieser Schrei Menschenherzen getroffen hatte, die Gewöhnung an das Grauen noch nicht um die Empfänglichkeit gebracht hatte, mitzuleiden, klang er aus ihr zurück als Schrei der furchtbarsten Anklage gegen die faschistischen Mörder.

Seitdem wurde solch unerhörte Untat zur täglichen Übung der elenden Invasoren; sie durfte es werden, weil die gesittete Welt sich mit papiernen Protestschreiben zufriedengegeben hatte, hoffend, dass diese von den Untätern gehört und erhört wurden.

Es war ein Irrtum, dies zu hoffen; sie wurden es nie. Die nationalsozialistischen und faschistischen Mörder, denen das Organ für die Unterscheidung zwischen ehrlos und ehrenhaft von Natur aus fehlt, setzten ihr feiges Handwerk fort. Jeden Tag zerschlugen sie mit ihren Bomben die Städte und Dörfer des Hinterlandes; und ihre stupiden Gesichter lachten, wenn sie Flammen und Staub ihrer Zerstörung unter sich aufstieben sahen.

Was in Guernica geschah, geschieht seitdem an tausend Orten zu tausenden Malen. Schreit euer Herz eigentlich noch, wenn ihr in den täglichen Berichten des republikanischen Generalstabes lest: 15.15 Tarragona bombardiert, 40 Tote, 65 Verwundete, 16 Häuser zerstört – 16.30 Tortosa bombardiert, 12 Tote, 43 Verwundete, 9 Häuser zerstört – 19.05 Sitges bombardiert, 24 Tote, 64 Verwundete, 23 Häuser zerstört – Valencia vom Meer aus beschossen, 212 Tote, 429 Verwundete, 31 Häuser zerstört? Schreit euer Herz noch jeden Tag beim Lesen solcher lakonischen Kommuniqués? Ich will damit nicht sagen, ihr tapferen Freunde der Menschlichkeit, dass das Furchtbare euch heute weniger bewege als beim ersten unerhörten Male; aber wir wissen, wie leicht auch das edle Herz stumpf werden kann durch Gewöhnung. Noch sitzt ihr in euren warmen Wohnungen, Freunde, noch schlaft ihr in euren Betten und denkt ein unausgesprochenes Gott sei Dank, dass eure Häuser und eure Betten noch behütet stehen. Aber heute ist kein Haus und kein Bett mehr behütet, wenn ihr sie nicht vor der grauenvollsten Zerstörung bewahrt, die ganz Europa bedroht!

Ihr habt in euren Zeitungen gelesen, dass Barcelona über zwanzigmal in den drei Tagen vom 16. bis zum 18. März aus der Luft bombardiert worden ist, dass es fast 1000 Tote, fast 2000 Verwundete gegeben hat, dass fast 100 Häuser eingestürzt sind.

Damit ihr einen Begriff davon bekommt, was diese trockene Notiz bedeutet, lasst euch von einem, der mitten in diesen zwanzig Bombardements war, dem die Bombensplitter um die Ohren geflogen sind, lasst euch von einem Augen- und Sinnenzeugen in schonungsloser Aufrichtigkeit erzählen, was in diesen drei Schreckenstagen in Barcelona sich ereignete.

Am 16. März begann es. Waren es früher mehr die Hafengegenden, die unter den Bombardements zu leiden hatten, so galt der Angriff dieses Mal dem Zentrum der Stadt, wo es gar keine militärischen Objekte gibt. Früher blieben die Tausende Passanten auf den großen Boulevards und den Plätzen stehen und beobachteten neugierig den Himmel, wo in unendlicher Höhe die Mordflieger kreisten. Die Bombeneinschläge waren gewöhnlich an der Peripherie, und nur die dumpfe Lufterschütterung zeigte sie an. Heute aber waren die Boulevards, die großen Plätze, die breiten Straßen mit den achtstöckigen Häusern das Ziel der Zerstörer.

Am 16., beim Einbruch der Nacht, ging es los. Die Sirenen schreien, Alarm! Das Licht verlischt in der ganzen Stadt. Nur der verfluchte Mond leuchtet. Die Menschen laufen von den Straßen in die Häuser, noch nicht überstürzt, denn noch nie hat es in dieser Gegend eingeschlagen. Plötzlich geht ein Zischen und Fauchen über den Himmel. Eine Sekunde darauf schlagen die Bomben in die Straßen ein, in die hohen Häuser. Alle Fenster in der Umgegend splittern heraus. Flammen schlagen zum Himmel. Von ferne hören wir das Schreien der Getroffenen. Wenige Sekunden später rasen die Ambulanzen und die Feuerwehren durch die Straßen der schwarzen Stadt. Wütend bellen die Abwehrbatterien. Die Scheinwerfer fassen mit mächtigen Lichtarmen weit in den Himmel. Rauch- und Staubschwaden ziehen durch die Straßen. Nach zwei Minuten ist Ruhe. Aber unter dem Schutt liegen unzählige erschlagene Frauen und Kinder.

Der Alarm ist vorbei. Das Licht kommt wieder. Wir gehen in unser Hotel, um zu essen. Wir sind eben beim letzten Bissen, da heulen die Sirenen von neuem. Tiefe Finsternis. Die Batterien besäen den Himmel mit Granaten und Leuchtkugeln. Wieder das fauchende Heulen. Die Erde zittert. Weg von den Fenstern! Deckung! Furchtbare Einschläge! Beim Arc de Trionf brennt’s. Der Himmel wird schrecklich rot. In den finsteren Hotelkorridoren wimmern die Frauen und drücken ihre weinenden Kinder an ihre Leiber, als wären sie ein Schutz.

Es wird wieder still. Nur die heulenden Hupen der Ambulanzen und die Klingeln der Feuerwehr gellen durch die Stadt. Nach einer Stunde Dunkelheit und Schweigen verkünden die Sirenen das Ende des Alarms. Das Licht kommt wieder. Viele gehen ins Bett, viele hocken in den unteren Gängen der Häuser und Hotels, auf Stühlen, auf der Erde.

Gegen elf schreien die Sirenen wieder. Ich höre, wie die Kinder in den Hotelzimmern entsetzenvoll aufschreien. Die Treppen dröhnen vom Hinabrennen der Bewohner. Noch ehe sie das Parterre erreichen, setzt wieder das furchtbare Heulen und Fauchen über der Stadt ein. Die Bomben! Fünf, zehn, zwanzig. Die Erschütterung in den Häusern ist so heftig, dass die Möbel krachen. Die Fenster fliegen heraus. Unheimlich schwirren und singen die Sprengstücke der Abwehrgeschütze auf die Straßen nieder.

Um halb zwei ist das nächste Bombardement. Um fünf Uhr wieder eins. Die Mütter sind inzwischen mit ihren Kindern in die Untergrundbahntunnels geflüchtet. Um acht ist das nächste Bombardement. Wieder mitten über dem Zentrum der Stadt geht der Todesdonner nieder. Ein Theater ist getroffen. Der Schnürboden hängt in der Luft an dünnen Trägern. Mehrere riesige Häuser sind zusammengefallen wie Zigarrenkisten. Hunderte Menschen, die, übermüdet, am Ende der Nacht noch einmal in ihre Betten gekrochen waren, um vor der Arbeit noch eine Stunde Schlaf mitzunehmen, liegen zerschmettert unter dem Schutt ihrer Häuser.

Um elf ist das nächste Bombardement. Um zwei und fünf und so weiter wieder die ganze Nacht. Wir schlafen nicht mehr. Es gibt nur noch eine Sicherheit, das ist, heraus aus dem Zentrum der Stadt, an den Fuß des Tibidabo! Die Bomben, die dort draußen fallen, sind Zufallstreffer.

Als der Morgen des 18. März graut und wir wieder in die Stadt zurückkehren, begegnen uns Heerscharen von Flüchtenden. Die Männer tragen Matratzen und Decken, die Frauen Körbe und Taschen mit dem Notwendigsten, die Kinderchen trappeln mit blassen, übermüdeten Gesichtchen hinterdrein. Sie fliehen in die Vorstadtgärten, zu Bekannten, sonst wohin, nur heraus aus der Zone des Grauens!

Heute, am 18. März, sind es neunzig Jahre, dass in Berlin, Dresden, Budapest und Wien die Demokraten, die Handwerker und Arbeiter auf die Barrikaden gingen im Kampf des Rechts gegen das Unrecht. Heute ist es siebenundsechzig Jahre her, dass die Demokraten, die Arbeiter und Soldaten von Paris die große Commune proklamierten. Das ist ein Datum, das die Obskurantisten unserer Zeit mit besonderem Hass erfüllt. Und sie haben ihm Ausdruck gegeben.

Früh kamen die Bomben wieder, unheimlicher und zerstörender als je. Wieder fielen die Häuser wie Schachteln zusammen. Das Furchtbarste aber geschah am Mittag. Wir saßen wieder beim Essen im Speisesaal an der Plaza de Catalunya. Da setzen die Sirenen mit voller Kraft ein und schreien ihre Warnung über die Stadt. Einen Augenblick sitzen alle wie erstarrt. Die Abwehrbatterien donnern. Im nächsten Moment kommt wieder das heulende Fauchen vom Himmel hernieder. Jeder spürt: Der Ton heult direkt auf uns zu. Frauen, Kinder und alte Leute rennen in panischer Angst aus dem Saal. Da schlägt es ein. Ganz nah. Ein zweiter Donner. Noch einer. Die ganze Erde bebt. Die Einschläge kommen näher. Draußen rennen Menschen über den Platz, um noch in die Metro zu kommen. Die letzte Bombe schlägt uns gegenüber auf der andern Straßenseite ein. Alles stürzt hin. Die riesigen Fenster des Speisesaals explodieren in hunderttausend Stücke und hageln über uns. Die Tische fliegen um. Die Türen reißen aus ihren Angeln. Die Straße steht voll Qualm und Staub.

Wir laufen hinaus. Wie der Rauchvorhang fällt, öffnet sich eine grauenvolle Szene vor unseren Augen. Die Bombe hat die Straße aufgerissen. Die großen Platanen liegen quer über dem Boulevard. Alle Fenster des Hotels Colon sind mit dem Rahmen herausgeschmettert. Eine besetzte Straßenbahn – die Menschen konnten in der Hast nicht mehr aus dem Wagen – ist wie eine Blechschachtel zusammengequetscht. Ein Auto brennt mit hoher, dunkelroter Flamme. Alles liegt voller Toter und Verletzter. Die Schaufenster der ganzen Umgebung sind herausgerissen. Die hölzernen Mannequins liegen auf den Straßen zwischen Hemden, Krawatten, Uhren, Fotoapparaten und Keramiken. Und alles übersät von Millionen Glassplittern. Der Totenwagen kommt. Er sammelt die Leichen und die abgerissenen Gliedmaßen. Helfer laufen und werfen menschliche Stücke, die sie finden, auf den Wagen zum Übrigen. An den Wagenplanken hängen zähe Blutfäden.

Laufen wir weiter! Es gibt noch ein furchtbareres Bild, um die nächste Ecke, an einer Kreuzung der Calle de Cortes. Dort haben die vorletzten Bomben unbeschreibliche Zerstörungen hervorgerufen. Zehn hohe, achtstöckige Häuser sind zu Schutt zusammengefallen. Nur einige Brandmauern stehen noch, ein paar halb weggerissene Zimmer kleben noch an ihnen. Da schwebt ein Bett über dem Abgrund. Der in ihm lag, ist von der Explosion hinausgeworfen worden und schläft jetzt den letzten Schlaf unter dem Schutt. Ein goldgerahmtes Familienbild hängt im fünften Stock an der Wand und lächelt unheimlich über all das Grauen hinweg. In der stehengebliebenen Ecke eines Kinderzimmers lehnt noch ein Schaukelpferd; eine hölzerne bunte Eisenbahn hängt vom weggebrochenen Fußboden herab. Die Kleinen, die gestern noch mit ihnen spielten, liegen jetzt, in Stücke gerissen, unter den Steinen.

Schon hat sich die Stätte der Verwüstung mit Tausenden Helfern gefüllt, die über den Schutt klettern und aufzuräumen beginnen. Sie versuchen, eine Straßenbahn zu löschen, in der die Menschen verbrennen. Die mächtigen Steinblöcke der Häuser werden mit Ketten weggeschleift. Überall ziehen sie zwischen den Steinen und Blechen, Sparren und Möbelresten Teile von menschlichen Körpern heraus. Ein Soldat sammelt pietätvoll in einem Kasten, was er an kleinen Menschenresten findet, Schädelstücke mit schwarzen und grauen Haaren, Kinderfüßchen, zerrissene Eingeweide. Er zischt einen Fluch durch die Zähne: „Canalla fascista!“

Die Dunkelheit kommt. Hier gibt es keinen Feierabend. Die Tausende schaffen unverdrossen. Stein für Stein, Balken für Balken, Splitter für Splitter wird weggeräumt. Die Asaltos haben auf den umliegenden Dächern Scheinwerfer aufgestellt, damit die Arbeit nicht unterbrochen zu werden braucht.

Um neun läuft einer über die Straße und ruft: „Da drüben unter dem Schutt, da muss einer leben, der hat sich gemeldet.“ Sie stürzen mit Picken und Schaufeln hin und lehnen die Ohren an die stehengebliehene Wand des Nebenhauses. Sie hören etwas. Sie schlagen Löcher in die Mauer. Jetzt ruft es aus der Tiefe: „Aqui camaradas, aqui! Hier! Hier!“ Die Steine brechen heraus. Jetzt ist ein Loch in der halbmeterstarken Wand. „Lebt der noch?“ – „Ja, sie sprechen schon mit ihm“, sagt der Carabinero.

Als sie ihn gerade herausholen wollen, heulen die Sirenen wieder. Die Scheinwerfer verlöschen. Alle werfen ihre Werkzeuge weg und stürzen in Deckung. Und wieder heulen die Bomben über Barcelona. Der Himmel flammt auf. Und wieder brechen woanders Häuser zusammen und begraben Frauen und Kinder.

Ich richte meinen Ruf an die ganze gesittete Welt. Ich habe euch ein furchtbares Erlebnis mitgeteilt. An euch Millionen, an euch alle, wende ich mich. In wenigen dürren Worten will ich euch mit diesem Bericht eine Vorstellung geben, was euch allen bevorsteht, wenn ihr nicht begreift, dass das Mittel des Protestes unzureichend geworden ist. Die Stunde drängt zu Aktionen! Heute ist es Barcelona! Morgen ist es Paris und London! Aber übermorgen ist es Berlin!

Die Gedichte dieser Leseprobe aus „Stimmen aus dem Exil. Gedichte 1933 – 1943“ gehören zu den eindrucksvollsten Zeugnissen literarischen Widerstands im Exil. Zwischen Schmerz und Trotz, Anklage und Hoffnung verleiht Erich Weinert den entrechteten, gefolterten und ermordeten Opfern des Nationalsozialismus eine kraftvolle Stimme. Seine Verse sind nicht nur dichterische Verarbeitung persönlicher und kollektiver Erfahrung, sondern auch kämpferischer Aufruf, die Menschlichkeit gegen die Barbarei zu verteidigen.

Die Nacht des Gefangenen

Berlin 1933

Die Zellenwände bauchen sich und fliehn,

Als ob sie atmeten, als ob sie schwängen.

Das dünne Mondlicht spielt mit den Gestängen.

Und oben, wo die schwarzen Schatten hängen,

Sieht er die Augen der Verzweiflung glühn.

 

Er wirft sich hoch, starrt in die Dunkelheiten.

Da schwebt ein Riesenschädel, grau und fett,

Tief in die Stirn gezogen das Barett.

Und eine kalte Stimme hallt von weitem:

Ich will dir tausend Nächte Qual bereiten!

 

Er springt von seiner Pritsche, schlägt die Faust,

Die Stirn, das Ohr ans harte Fenstereisen.

Und wie der Nachtwind durch die Stäbe saust,

Fühlt er, wie die Gedanken nicht mehr kreisen,

Er packt mit voller Kraft das kalte Eisen.

 

Beruhigt schaut er in die Nacht und spricht:

Ich weiß, du lauerst, du Barettgesicht,

Dass ich in diesem Totenhause stürbe.

Du kannst mich martern, doch du zwingst mich nicht.

Auch tausend Nächte machen mich nicht mürbe!

 

Er lehnt sich an die Wand und lauscht und ruht.

In seiner Schläfe kühl verrauscht das Blut.

Und plötzlich – klopft es an die tauben Steine,

Ein Menschenwort: Genosse, geht dir s gut?

Ich bin bei dir, du bist ja nicht alleine!

 

Das weht wie warmer Wind in seine Zelle.

Das Klopfen fällt ins Herz wie heiße Tropfen.

Nun hört er’s wie durch tausend Wände klopfen:

Durch tausend Wände bricht’s wie eine Welle,

Wie eines Morgenhimmels rote Helle:

 

Genossen, unzerstört stehn unsre Rechte

Durch tausend und durch abertausend Nächte!

Und wenn man einst aus diesem Rattennest

Als ausgeblichne Schatten uns entlässt,

Dann sind wir Schatten, aber keine Knechte!

 

Und wie’s durch zehnmaltausend Wände spricht,

So klingt es in Millionen Herzen wider.

Der Herzschlag unsrer zehnmaltausend Brüder

Schlägt durch die Welt und schlägt den Kleinmut nieder

Und weckt den Morgenruf der Zuversicht!

 

Genossen, wenn der Nächte schwarzer Schauer

Durch eure Zellen kriecht, dann horcht hinaus!

Millionen Fäuste schlagen an die Mauer.

Einst schlagen sie das Tor zum Grab heraus.

Und helles Leben rauscht ins Totenhaus!

An einen deutschen Arbeiterjungen

Paris 1933

Nicht weinen, mein Junge, es ist geschehn.

Du kannst deinen Vater nicht wiedersehn.

Sie haben ihn auf der Flucht erschossen.

Junge, einen unserer besten Genossen!

 

Auf der Flucht erschossen! Junge, du weißt!

Sie haben dir schon gesagt, was das heißt.

Zwei Kugeln von vorn, in die Stirn, in die Lunge.

Sie haben ihn hingerichtet, mein Junge!

 

Du siehst mich an so entsetzten Gesichts.

Sei tapfer, mein Kind, ich erspare dir nichts!

Sie haben ihn wie einen Hund geschunden;

Er hat den qualvollsten Tod gefunden.

 

Als sie ihn holten, da hast du geschrien.

Und als er dich streichelte, schlugen sie ihn.

Er konnte kein Wort des Abschieds mehr sagen;

Sie hatten ihm schon den Mund zerschlagen.

 

Sie schlugen auf ihn drei Tage lang,

Bis dass ihm die Haut auseinandersprang.

Zittre nicht, Junge! Du musst es erfahren!

Ich will dir das Schrecklichste nicht ersparen.

 

Sie setzten ihm das Gewehr auf die Brust.

Aus blutendem Mund hat er singen gemusst.

Ihre Mordbrennerlieder musste er singen,

Auf blutenden Füßen musste er springen.

 

Und sähst du heute sein totes Gesicht,

Du würdest schreien, du kenntest ihn nicht.

Geschunden, zertreten, zerrissen, zerschossen!

Junge, einen unserer besten Genossen!

 

Wir trauern nicht, Junge, das ist nicht gut.

Jetzt nichts mehr fühlen als brennende Wut!

Und diese Glut darf nie mehr erkalten,

Für den Tag, Junge, wo wir Abrechnung halten!

Der Brand auf dem Opernplatz

Zum Jahrestag der Bücherverbrennung auf dem Opernplatz in Berlin am 10. Mai 1933

Paris 1935

Das war nicht neu. Das waren alte Dinge,

Das war zu allen dunklen Zeiten Brauch:

War je ein Regiment der Finsterlinge

Von Angst bedrängt, dass es der Geist bezwinge,

Umwölkte es verfallner Götzen Bauch

Mit Blutdampf, Brandgeruch und Opferrauch.

 

Ich nenne Finsterlinge jene Brut,

In deren innerem Wesen es beruht,

Des Unrechts Privilegien zu erhalten.

Sie stellt des Urrechts gärenden Gewalten

Gewalt entgegen, um sie auszuschalten.

Sie selber lebt vom Unrecht, das sie tut.

 

Wir wissen doch, weshalb sie uns verbrannten:

Der deutschen Feigheit, die wir tief erkannten,

Wir hatten dieser Feigheit Mut gemacht.

Millionen Feuer hatten wir entfacht,

Dass er nicht irrlief beim Beginn der Nacht.

Drum wissen wir, weshalb sie uns verbannten.

 

Das war nicht neu. Wer je den Massenglauben

An gottgesetzte Ordnung unterwühlt,

Den hieß es seiner Stimme zu berauben.

Denn dieser Stimme Schall zerbrach die Schrauben

Und drohte wie ein Donner zu zerstauben,

Was nur die Dummheit noch zusammenhielt.

 

Drum griffen sie in ihrem ersten Grimme

Nach unsrem Wort mit ihrer Mörderhand.

Sie zündeten ein Feuer auf im Land

Und glaubten, dass es in der Glut verglimme.

Sie glaubten, sie verbrennten unsre Stimme.

Doch war es nur Papier, was sie verbrannt.

 

Wir sind noch da. Wir sind noch nicht begraben.

Wir sind nicht schmählich aus der Welt geflohn.

Sie fühlen unsre Stimme sie bedrohn.

Denn nichts als Angstwut brüllt aus ihrem Hohn,

Weil wir dem Regiment nicht Ruhe gaben.

Sie wissen, dass wir scharfe Waffen haben.

 

Wer in die Hände fiel der Niedertracht,

Sie hat den Mund der Wahrheit stumm gemacht.

Doch seine Stimme ist nicht umgebracht;

Sie lebt in unsrer Bruderschaft Gedächtnis.

Aus unsrem Munde in der Zeiten Nacht

Erschalle neulebendig ihr Vermächtnis!

 

Wir sind noch da. Nicht müde des Gefechts.

Wir schreiten über die im Kampf Verglühten.

Wir scheuchen aus der Dämmerluft der Mythen

Die Henkermeister und die Troglodyten,

Bis siegreich aufflammt über dem Gekrächz

Das Wort der Wahrheit und das Wort des Rechts!

Wie haben Sie die Zeit vor, während und nach der Wende in der DDR erlebt? Manchmal ist es gut, kurz innezuhalten und zurückzuschauen – und darüber nachzudenken, was in den zurückliegenden Jahrzehnten aus den damaligen Hoffnungen und Wünschen geworden ist und was nicht.

Mit großer Spannung liest man noch heute „Die Leipziger Protokolle“ von Reinhard Bernhof, die unter der Überschrift „DIE ERSTEN UNTERSCHRIFTEN“ mit dem Datum des 12. September 1989 einsetzen. Gemeint sind die ersten Unterschriften unter einen Aufruf des kurz zuvor gegründeten „Neuen Forums“.

Darüber berichtet Bernhof unter anderem:

„Mitte September besuchte mich Dieter Mucke aus Halle. Er brachte den Aufruf der eben in Grünheide bei Berlin auf Robert Havemanns Grundstück gegründeten Bürgerinitiative mit, den er von Heidi Bohley, einer Verwandten Bärbel Bohleys, bekommen hatte. „Aufbruch 89 – Neues Forum“. Ich könne mich mit Michael Arnold, einem Mitunterzeichner aus Leipzig, in Verbindung setzen. Die Adresse war angegeben. Endlich ein Weg. Das Gefühl, an der bleiernen Realität des Landes zu ersticken, war in Mucke und mir gleichermaßen bedrückend. Wir kannten das zermürbende Ringen um 4 elementare Rechte und strapazierten uns gegenseitig zuweilen bis zur Zerreißprobe. Und da wir nicht in Berlin wohnten, hatten wir auch kaum die Möglichkeit, in die sich anbietenden Mikrofone fremder Sender zu sprechen. Aber wollten wir denn die DDR von außen anbellen? In den Bezirken blieb man ausgeschlossen, so dass wir uns stets wie in einer Kapsel vorkamen, ohne die Hoffnung aufzugeben, dass darin eines Tages doch ein menschlicherer Sozialismus keimen könnte. Manchmal, wenn wir uns bei Freunden trafen, las uns Mucke einen Text vor, ein Gedicht oder eine Eingabe, ein Protestschreiben oder eine politische Reflexion über eine Partei weniger links als mehr nur eine staatstragend kleinbürgerliche –, deren meiste Mitglieder nicht einer Überzeugung dienten, sondern einer autoritären Hierarchie, die nur Apathie, Unbeweglichkeit und Angst produzierte und sich längst von den Idealen der Arbeiterbewegung verabschiedet hatte. Muckes Statements waren Notsignale, nicht für den Westen bestimmt, sondern beharrlich an sein Umfeld gerichtet. Nun dieser Aufruf. „Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übel gelaunter Passivität und hätten doch Wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit.“ Die Erhaltung von Bewährtem und doch Platz für Erneuerung. Für öffentlichen Dialog, gegen Meinungsunterdrückung durch Zensoren, Büttel, Spitzel … Der Aufruf kam mir vor wie eine Brücke hin zu den Basisgruppen, die zunehmend in Kirchenräumen zusammenkamen. Dies, obwohl er ein wenig zu sehr nach schöner Menschengemeinschaft klang, mir der Glaube an das Gerechtigkeitsversprechen des DDR Sozialismus längst abhanden gekommen war. Am nächsten Tag parkte ich meinen Lada weitab von der angegebenen Adresse und näherte mich der Zweinaundorfer Straße. Nichts, das verdächtig erschien. Nirgends ein Fahrzeug, in dem sich Männer befanden, Radio hörten oder Zeitung lasen. Ich erreichte ein größeres gepflastertes Hofgelände, in dem sich eine KFZ-Werkstatt ausgebreitet hatte. Das Gewitterlicht eines 5 Schweißgerätes flackerte hinter der Werkstattfensterscheibe, Hammerschläge waren zu hören, als ich vor dem dunkelblauen Hausnummernschild des Hintergebäudes stand: 20a. Die Tür nur angelehnt. Ein muffiger Geruch schlug mir entgegen, nach Ungelüftetem und Verfaultem. Die Wände des Toreingangs fantasiebemalt: graue, weiße, gelbe, rote Konturen. Die Briefkästen in grellem Blau, darunter rot tropfende Bögen auf weißem Unterton. Auf dem Treppenaufgang ungeleerte Mülleimer und alte Kompottgläser, Flaschen, strohblumengemusterte Tellerscherben. An der Wand Infos und ein Aufruf des Neuen Forums, hektografiert. In der ersten Etage der grau-braun-weiße Stamm eines Baumes, grüne Verästelungen und Blätter, ausgemalt bis zur Decke. Ich klopfte an eine angelehnte Korridortür. Öffnete sie vorsichtig, rief hinein. Die schmale Küche, die von einer Fensterluke nicht genügend Licht erhielt, um ihre Armseligkeit ganz preiszugeben. Ein uralter Kachelofen darin. Eine Stellage mit schmutziggrauem Vorhang, der mitten im Raum auf dem Boden lag. Schnell verließ ich die Wohnung, klopfte an der gegenüberliegenden Tür. Auch sie nur leicht angelehnt. Ist da jemand? Das leere Geviert mit drei Bettgestellen, ein Stuhl und ein Schrank, der aufklaffte, weil er nur noch drei Füße hatte und beide Türen vornüberhingen. Ein Brodem aus Abfall und Nässe stieg auf. Vorsichtig verließ ich die Wohnung. In der dritten Etage endlich ein Türschild. Der angegebene Name. Die Klingel zum Drehen, kaputt. Klopfen. Eine junge Frau, groß und schlank, ein Baby im Arm, öffnete. Sie ließ mich ohne Misstrauen herein und bot mir in der Küche, wo sie mit dem Baby beschäftigt war, Platz an. Mischa müsste bald wieder zurück sein, sagte sie. Bald darauf ein Knarren im Hausflur. Schlüsselgeräusche. Ein junger Mann, groß gewachsen, Dreitagebart, begrüßte mich neugierig. Wir sprachen sogleich über den Aufruf. Er müsse hektografiert und anderweitig vervielfältigt werden, sagte er. Unter die Leute bringen. Unterschriften zusammenholen, damit wir was in den Händen hätten und als Bürgerinitiative zugelassen würden. Je mehr Unterschriften, umso mehr Druck könnten wir machen. Mit den wenigen Blicken, die wir getauscht hatten, schien alles gesagt. Was wusste ich von ihm? Was er von mir?“

Auch im Nachhinein noch sehr spannend und atmosphärisch dicht zu lesen, oder?

Bleiben Sie ansonsten weiter vor allem schön gesund und munter und der Welt der Bücher gewogen. Da es beim vorletzten Mal so gut funktioniert hat, werden die neuen E-Books wieder per Bahn verschickt.

Der nächste Newsletter präsentiert weitere Bücher des Leipziger Schriftstellers Reinhard Bernhof, darunter seinen Erzählungsband „Interzonenzug I & II“, der erstmals 2003 im projekte Verlag Halle erschienen war.

INTERZONENZUG, dieses Wort wurde noch weit in die Siebzigerjahre im Munde geführt und war für viele Menschen in beiden deutschen Staaten wie ein Band, das Familien zusammenhielt. In einer längeren Reportage beschreibt der Autor eine Fahrt von Ost nach West und zurück unter den Bedingungen des kalten Krieges. Auch in den anderen Geschichten werden Situationen erzählt, die unmittelbar mit der deutschen Vergangenheit zu tun haben. Die Texte sind nicht Material für Historiker, sie tauchen aus der Erinnerung auf und werden Basis für das Begreifen der Gegenwart: zeitkritische Erzählungen, die ihre Wurzeln in der Auseinandersetzung mit alten, aber nachwirkenden Handlungsweisen und Auffassungen haben. Eine Entwicklung, überwiegend authentisch, bis zum Umbruch 1989 und weiter.

EDITION digital: Newsletter 08.08.2025 - Rückblicke auf 1989 und davor, Literatur mit Haltung sowie Verse als