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Blumenfrau und Filmminister. Ein Estland-Mosaik von Matthias Biskupek
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
16.06.2021
ISBN:
978-3-96521-470-5 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 122 Seiten
Kategorien:
Reisen / Ehemalige Sowjetrepubliken
Reise: Sachbuch, Ratgeber, Klassische Reiseberichte, Reiseliteratur, Estland, Zweite Hälfte 20. Jahrhundert (1950 bis 1999 n. Chr.)
Humor, DDR, Sachsen, Estland, Sowjetunion, Estnisch, Fischessen, Reiseleiter
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Der pensionierte Lehrer

geht mit mir spazieren. Er spricht sehr ruhig. Sein Deutsch hat einen Akzent; so macht es ihm Mühe, Zischlaute auszusprechen. Er sagt manchmal „deuts“ statt deutsch und „estnis“ statt estnisch. Nebenbei weist er mich auf Denkmale, Gebäude und Bäume hin. Wenn er von der Natur spricht, sagt er fast verträumt „Naduur“. Das Zungen-R rollt ihm ganz vorne aus dem Mund. Der Mund bewegt sich nur wenig beim Sprechen. Die Hände trägt der pensionierte Lehrer hinter dem Rücken gefaltet. Wenn er stehenbleibt, faltet er sie vorm Bauch. Er wendet sich mir immer voll zu, dreht nicht bloß den Kopf nach rechts oder links.

 

Sie müssen sich unbedingt noch Friedhof in Tallinn-Pirita ansehen. Das ist sehr wichtig. Unsere besten estnischen Menschen liegen dort. Der erste Ministerpräsident von Sowjetestland, Johannes Vares-Barbarus. Er wurde 1940 gewählt, als wir zur Sowjetunion gekommen sind. Aber es gab Probleme, glaube ich. Er war auch ein Poet und ist bereits sehr kurz nach dem Krieg verstorben.

Paul Keres, unseren Schachgroßmeister, gibt es dort auch. Überhaupt sehr viele Poeten und Tonsetzer und Kommunisten. Aber man hat alles sehr bescheiden angelegt. Es ist ein Waldfriedhof. Die Gräber sind überhaupt nicht hoch. Wir möchten nicht so sehr den Prunk.

Es gibt nur schlichte, einfache Steine, aber alles befindet sich im Walde. Inmitten der Natur. Es gibt keine Normung, verstehen Sie.

Ein reicher Ratsherr hat hier gewohnt. Ein Este.

Obwohl er Deutscher sein musste, aber er hat doch immer für das Estnische eine Lanze zerbrochen.

Nein, ich war in meinem Heimatdorf Lehrer. Immer. Es ist noch das Haus meiner Eltern, dort; mein Vater war dort ein Häusler. Aber es ist jetzt ganz schön gemacht, was denken Sie. Die alten Balken habe ich gelassen. Mein Sohn hat viel daran gearbeitet. Seine Familie ist nicht groß. Nur ein Kind. Sie sehen doch, wir Esten werden nicht mehr. Wir werden ein bescheidenes Volk bleiben.

Nein, Kriegsveteran bin ich nicht. Es sind nicht alle unsere älteren Männer Kriegsveteranen. In Estland nicht. Aber wie soll ich Ihnen das erklären?

Wenn Zar Peter der Erste nach Tallinn kam, hat er übrigens hier immer Gericht gehalten.

Ja, wie soll ich Ihnen das erklären?

Sehen Sie, es gab damals ein neues Gesetz. Wer in der Sowjetunion Lehrer war, musste nicht zum Armeedienst. Und wir waren gerade sowjetisch geworden, 1940. Da hat übrigens Hitler seine Leute „heim ins Reich“ geholt. Das war damals. 1939. Unser Reichstag hat sie aus der Staatsbürgerschaft herausgelassen. Es wurde extra ein Gesetz dafür erlassen. Sie wurden nicht ausgesiedelt, nein, er hat sie geholt. Es war wohl eine Vereinbarung. Und sie haben gefolgt. Deutsche hören immer aufs Wort. Es sind gute Schüler.

Wer wollte, konnte bleiben. Gern. Natürlich.

Ich hatte das Abitur abgeschlossen und wurde sofort Lehrer. Für Estnisch. Das war möglich, denn es gab viel zu wenige Estnischlehrer. Es wurde nur ein Kursus durchgeführt, nicht lang, und dann bin ich Lehrer gewesen, in jener Schule, in der ich Schüler war. Gewesen war.

Andere von meinen Kameraden, die zur Roten Armee gekommen sind, haben im Kriege dann gekämpft. Gegen die Deutschen. Aber ich war Lehrer, und wir wurden ja sofort okkupiert. Das ging alles ungeheuer schnell. Anfang Juli waren wir schon von den Hitler-Truppen eingenommen. Sie waren aber auf der Station in der Kreisstadt, in Haapsalu. So bin ich den ganzen Krieg über Lehrer gewesen. Es war ruhig bei uns.

Bis 1944. Und dann musste ich im Hilfskorps dienen. Denn die deutsche Armee hat alle Esten einbezogen. Es war ein Gesetz. So bin ich dann in einem Hilfskorps gewesen. Aber ich war Übersetzer. Wir wurden in Haapsalu zusammengezogen. Sagt man zusammengezogen? Aber es hat dort niemand geschossen.

Aber einmal wurden zwei Soldaten erschossen. Zwei von unseren Esten. Soldaten. Von deutschen Soldaten. Da hat man uns gemeinsam angesprochen, und es war ein Appell. Dass es ein Versehen war, und wir sollten erzählen, ob wir etwas davon wussten. Von der Erschießung. Aber wir haben gesprochen, dass wir es nur gehört haben.

Einen Freund haben sie gehört, nein, verhört. Er hat ebenso gesprochen wie wir. Aber er ist – musste fort. Wir haben keine Briefe bekommen.

Die Deutschen haben dann gekämpft und sind nach Tartu – nach Dorpat – vorgerückt. Aber wir waren eine Reserve. Man hat uns vielleicht auch nicht kämpfen lassen wollen, weil man Angst hatte, ob wir Freunde der Roten Armee waren. Ein Teil unseres Hilfskorps wurde dann nach Saaremaa, das ist die Insel Ösel, übergeführt. Dort waren dann sehr schwere Kämpfe und später in Kurland, im Lettischen, auch. Man hat sie nicht wiedergesehen.

Es sind welche mit zurück nach Deutschland gegangen, und andere Menschen sind nach Schweden ausgewandert. Es war eine unstimmige Zeit, wissen Sie, und die Rote Armee war sehr schnell in Tallinn. Im Herbst 1944. Tartu hat man sehr heftig gebombt. Sehen Sie Stück von Kruusvall im Dramatheater „Die Farben der Wolken“. Es ist sehr gut und sehr genau über diese Zeit. „Pilvede värvid“. Ja.

Aber wir haben unsere Waffen abgegeben. Und so bin ich in ein Kriegsgefangenenlager gekommen. Es war weit in Sibirien. Und mit mir waren Deutsche im Lager. Da habe ich wieder Dolmetscher machen müssen. Dort habe ich dann richtig Deutsch gelernt. Russisch auch, weil ich doch mit den Sowjetischen und mit den Deutschen sprechen musste. Aber vom Russischen habe ich schon wieder vieles vergessen, weil ich dann nur noch als Lehrer für Deutsch und Estnisch an meiner Schule arbeitete.

Ich bin nicht lange in dem Lager geblieben; ich war 1946 schon wieder zu Hause. Und bin gleich wieder Lehrer geworden, denn es gab zu wenige Lehrer für unsere Sprache.

Es gibt auch heute zu wenige. In den russischen Schulen sollen die Kinder eigentlich hier in Estland von dritter Klasse an estnisch lernen. Aber sie können es nicht immer. Es gibt zu wenige Lehrer. Die estnischen Kinder können aber lernen genug.

Mein Sohn wollte kein Lehrer werden. Überhaupt nicht. Er hat gesagt, ich werde kein Pauker. Pauker, nicht wahr. Da hab ich gelacht.

Aber jetzt habe ich Ihnen uninteressante Dinge erzählt. Und es ist bei meinen Schulkameraden manchmal ganz anders gewesen, im Krieg. Aber viele waren auch so wie ich. Viele sind gefallen. Nun sehen Sie, wie heißt dieser Baum auf deutsch?

Ich habe es gewusst, als ich in der Gesellschaft für Naturschutz einen Vortrag hatte. Und nun habe ich es schon wieder vergessen. Und Sie wissen es auch nicht.

Man muss unbedingt lernen, wie die Bäume heißen. Ich bin ein Pauker, nun merken Sie es.

Blumenfrau und Filmminister. Ein Estland-Mosaik von Matthias Biskupek: TextAuszug