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Und unter jede noch einen kleinen Witz, son paar lustige Worte. n echter Berliner lässt sich nicht unterkriegen, behält stets den Humor. Zuerst hat ihn diese Forderung von Fräulein Mehlitz gekränkt. Will man sich auf Kosten seiner armen Leute amüsieren? Das duldet der Pinselheinrich nicht. Auf keinen Fall. Aber solln sie ihre Witze haben. Seine Straßenkinder sind schlagfertige Gören, und es gibt kein schärferes Schwert als eine spitze Zunge. Mit diesem Schwert wird er kämpfen für die, die sich selbst nicht wehren können. Wird denen Mut machen, die manchmal schon ohne jede Hoffnung sind.
Auf dem vor ihm liegenden Blatt hat er eine Mansarde gezeichnet. Eine lausig kalte Bude ohne Ofen. Am Bett klettern drei Kinder herum. Ein viertes hockt vor der Kommode, die es zu öffnen versucht. Vorn im Bild steht ein Arzt. Tadellos gekleidet. Ihn hat man geholt, damit er für Hans einen Totenschein ausfüllt. Der kleine Hans war nur ein paar Wochen alt geworden. Zu wenig Milch und zu viel Wasser im Fläschchen. Das vertrug er nicht.
Darüber reißt man keine Witze, sagt Zille so heftig, dass Hanseken erschrocken diü! schreit.
Er nimmt den Federhalter, taucht ihn ins Tintenfass, stockt, taucht nochmals tief in die dunkle Flüssigkeit und schreibt unter das Blatt:
Arzt: Kinder, wo ist denn euer heute morgen verstorbenes Brüderchen?
Kinder: Ach, Herr Doktor. Mutter ist weggegangen und hat den Hans in die Kommode geschlossen, wir solln nicht mit ihm spieln.
Was werden das Fräulein Mehlitz und der Verlagschef dazu sagen?
Auf diese Frage weiß Hulda Zille ihrem Mann beim besten Willen nichts zu antworten. Im Augenblick ist ihr sowieso etwas anderes viel wichtiger. Seine Gesundheit. Seit Tagen hockt er in der Stube, wie angeleimt. Ganz zu schweigen von den halben Nächten, die er über seinen Stricheleien verbringt. Beißender Pfeifenqualm hängt in Gardinen und Möbeln. Dieses ständige Rauchen! Ruinieren wird sich Heinrich. Alles wegen diesem Buch!
Zur Zuckerkrankheit wird er sich noch eine Lungenschwindsucht aufhalsen. Das muss sie verhindern, und sie hat sich schon eine List ausgedacht, ihn an die frische Luft zu schicken. Sie wird Fenster putzen.
Hulda, aber doch nicht jetzt!, protestiert er. Ich muss arbeiten.
Ja,ja ... Unbeirrt rückt sie die Staffelei zum Schrank, um das Fenster zu öffnen. Zum Arbeiten brauchste Licht, Vater ... unsere Scheiben lassen bald keins mehr durch ... wenn ich das Wetter nicht nutze ...
Ausgerechnet heute! Er wirft ihr einen bösen Blick zu.
Morgen kanns schon wieder regnen. Sie darf nun nicht nachgeben.
So dreckig sind sie doch gar nicht.
Hulda quartiert bereits Hanseken samt Käfig in die Küche um, damit er sich nicht erkältet.
Zille möchte mit der Faust auf den Tisch hauen. So einen Zorn hat er. Aber er braucht beide Hände, um seine Zeichnungen festzuhalten. Sonst weht der Wind sie vom Tisch. Diese Hulda!
Und wo bleib ich?, knurrt er.
Vertret dirn Stündchen die Beine, Vater. Sie sagt es mit einem Lächeln, dass er sich wortlos fügt. Sie kennt ihren Heinrich. Aus einem Stündchen werden mindestens zwei, drei, und wenn er gar einen Bekannten trifft, wird er eventuell den ganzen Nachmittag wegbleiben.
Der Bekannte ist Emil. Wird ja allmählich Zeit, dass er sich für die Hose bedankt. Doch der wahre Grund, weshalb er den Pinselheinrich besuchen will,. ist ein anderer. Emil möchte einen Rat, und er hofft sogar, sich mit dem Pinselheinrich in einer bestimmten Sache gegen Onkel Gustav verbünden zu können.
Vor Zilles Haus lässt ihn dann beinah sein Mut im Stich. Kräftig spuckt Emil noch mal auf die krummen Pflastersteine, tippt mit zwei Fingern gegen seine Mütze, schnurchelt durch die Nase - und da tritt Zille aus der Haustür. Überrascht mustern sie sich gegenseitig vom Scheitel bis zur Sohle. Emil zupft an der Hose, stellt sich in Positur und grient. Zille nickt.
Sie passt? Er legt dem Jungen die Hand auf die Schulter.
Einwandfrei, Meester!, sagt Emil, und die beiden ziehen gemeinsam los, als hätten sie sich zu einem Bummel verabredet.
Na, Emil, wie geht es deinem Onkel?, erkundigt sich Heinrich Zille.
Onkel Gustav? Wenn er nicht Zeitung liest, sitzt er da und ärgert sich, dass ihn Mutter mit durchfüttern muss. Emil wittert eine Chance für seinen Plan. Wollen Sie ihn malen?
Zille überlegt kurz und schüttelt dann den Kopf. Emil wundert sich. Noch nie wollte der Pinselheinrich den Onkel zeichnen. Warum? Aber Emil hat jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Er denkt an seinen Plan.
Seine Hand ist noch nicht heil, redet er weiter. Nichts kann er machen, nicht mal das Rattenloch in der Fußleiste zunageln. Für mich natürlich n Klacks. Emil versucht, sich vor dem Pinselheinrich herauszustreichen. Der jedoch überhört es.
Sie wandern zum Spandauer Berg. Unwillkürlich schlägt Zille den Weg ein, auf dem er sonst jahraus, jahrein zur fotografischen zuckelte. An der Ecke, wo sich Sophie- Charlottenstraße und die Chaussee, die nach rechts zum Schloss führt, kreuzen, versperrt eine Gruppe von Passanten den Fahrdamm. Ein Pferd ist gestürzt. Mit Geschrei und Püffen wird es wieder auf die Beine gebracht. Emil sieht, wie es angstvoll mit den dunklen Augen rollt, wie die geblähten Nüstern Luft einsaugen; sieht, wie ein Zittern über das Fell des Pferdes läuft. Der Kutscher knallt mit der Peitsche, und das Tier legt sich in die Sielen.
Nee, ich möchte kein Pferd sein, sagt Emil.
Ideen hat so ein Bengel, denkt Zille und fragt: Was möchtest du eigentlich mal werden von Beruf? Sie biegen nach links ab, tauchen unter der Brücke zwischen Bahnhof Westend und Güterbahnhof hindurch. Über ihren Köpfen rattert ein leerer Zug. Darum versteht Zille Emils Antwort nicht, und der Junge wiederholt: Am liebsten was mit Rechnen.
Du rechnest gern? Das hat Zille nicht erwartet. Warum eigentlich nicht?
Mich begaunert nicht mal der dicke Künze!, prahlt Emil ein bisschen. Mein Kopp ist fixer. Ehrenwort!
Hast ne Eins in Rechnen?
Das ist nicht schwer.
Zilles Miene drückt Anerkennung aus. Schade um den Jungen, denkt er. Was wird ihm seine Begabung nützen?