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Zu spät kam Christian nicht zur Schule. Allerdings fürchtet er jetzt, dass er nicht pünktlich sein wird. Die Hortnerin ließ ihn erst um fünfzehn Uhr weg. Vati hat um sechzehn Uhr Feierabend. In fünfzig Minuten also. Christian erinnert sich nicht mehr genau, wie lange er zu fahren hat. Nur, dass er umsteigen muss, weiß er. Er steht in der Straßenbahn, in eine Ecke gedrückt, seine Büchermappe zwischen den Füßen, schwitzt und bangt, bis zum Schichtschluss Vatis Betrieb nicht zu erreichen. Er genießt nicht die Fahrt wie sonst. Aufgeregt zählt er die Stationen. An der Freilichtbühne gelingt es ihm nur mit Mühe, sich aus der vollen Bahn herauszukämpfen und in den Bus hineinzuquetschen.
Der IKARUS rollt über eine breite Betonstraße, schaukelt hinaus in winterlich ausgebleichte Wiesenlandschaft, und als er hält, steht er vor Vatis Betrieb. Christian wird hinausgeschoben. Seit dem Sommer ist er nicht mehr hier gewesen. Er verharrt, staunt. Mann, Mann, haben die was geschafft in den letzten Monaten, denkt er. Vor einem Jahr weideten hier noch Kühe.
Stolz, als hätte er die neuen Werkhallen und die silbernen Kühltürme eigenhändig erbaut, schreitet er zum Pförtnerhaus und stellt sich daneben, weil hier alle vorbei müssen. Die Leute, die den Betrieb verlassen, haben es eiliger als jene, die eben mit Christian ankamen und hineingehen. Besonders die Frauen.
Christian reckt sich auf die Zehenspitzen, dreht suchend den Kopf hin und her. Wo bleibt Vati? Zu übersehen ist Vati mit seinen 1,85 Metern nicht.
Christian wippt von einem Bein aufs andere. Sollte Vati die Schicht gewechselt haben? Herr Montag müsste es wissen. Doch Herr Montag ist schon an Christian vorbei. Vergeblich suchen Christians Augen unter den Frauen das hübsche Fräulein Müller. Die würde mir helfen, Vati zu finden, denkt er. Die war im Sommer so nett zu mir.
Benzindunst verbreitend, knattert vom betriebseigenen Parkplatz eine Kolonne Motorräder heran. Vor dem Pförtnerhaus stoppen sie ab. Ausweise werden vorgezeigt. Einer der Männer lenkt seine Maschine dicht an den Kantstein des Gehweges und ruft Christian zu: "Eh! Steig auf!"
An den zotteligen, unter dem knallroten Sturzhelm hervorquellenden Haaren erkennt er Fiete Katelbogen, einen von Vatis Kollegen.
"Na, steig auf!", wiederholt der junge Mann sein Angebot.
"Wo bleibt Vati?" Unsicher kommt Christian näher und blickt ihn erwartungsvoll an.
Katelbogen schnippt seine Schutzbrille hoch, lässt sie gegen den Helm federn, wo sie hängenbleibt. "Du wartest auf Ingenieur Nemerow? Dacht ich mir."
Christian nickt. Fiete Katelbogen stellt den Motor ab, setzt beide Füße auf die Erde. "Es lohnt sich nicht zu warten."
"Ich muss Vati aber was fragen", beteuert Christian. "Ich muss ihn sprechen. Dringend."
"Wenn ich dir sage, es lohnt sich nicht. Steig auf! Wir drehen 'ne Runde, und dann fahr ich dich nach Hause."
"'ne Dreihundertfünfziger, nicht?", fragt Christian und klopft gegen den Tank.
"Spitze einhundertdreißig", prahlt Fiete.
"Ich muss Vati sprechen", sagt Christian und verzieht die Lippen zu einem krampfhaften Lächeln.
"Aber nicht heute." Katelbogen springt ab, bockt die Maschine auf.
"Sitzung?", fragt Christian schüchtern.
"So was Ähnliches."