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Seit 1963 saß ich in den Ministerratssitzungen und in der Kommission zur Ausarbeitung des neuen Schulgesetzes neben seiner Nachfolgerin. Margot Honecker, aus einer hallischen antifaschistischen Familie stammend, arbeitete vor allem in FDJ-Funktionen des Kreises und Landes, 1949 wurde sie Vorsitzende des Pionierverbandes und überreichte als jüngstes Mitglied der Volkskammer Wilhelm Pieck einen Blumenstrauß mit dem Gelöbnis der Jugend. Es ist also anzunehmen, dass Erich Honecker sie bereits im Blickfeld hatte, bevor er sie nach der Scheidung von der biederen, ausstrahlungsarmen Edith Baumann heiratete. Sie besaß den Charme einer jungen Frau, hinter dem sie eine gehörige politische Routine versteckte. Eine angestrebte pädagogische Ausbildung an der Humboldt-Universität brach sie ab, der einjährige Schulbesuch an der Komsomolhochschule in Moskau sollte genügen, um sie im Kulturministerium einzusetzen, aber daran scheiterte sie intellektuell, wie sie überhaupt oberflächlich-burschikos unerwartete Probleme behandelte oder abwies.
Nunmehr arbeitete das Ministerium für Volksbildung mit ihrem Amtsantritt an dem neuen Bildungssystem. Die damit verbundenen, die ganze Gesellschaft umfassenden Probleme bearbeitete eine Regierungskommission, die Alexander Abusch leitete. Ein gewisser Vorteil, den die Volksbildung aus ihrem Ministeramt zog, bestand in Gehaltserhöhungen für Lehrer und Erzieher. Sie kannte die internen Fäden und nutzte die Bekanntschaften mit vielen Politikern, die sie vor den Karren der Volksbildung spannte, teils zu deren Vorteil, aber auch zum Nachteil. Zuerst war sie noch darauf bedacht, dass kein äußerer Zusammenhang zwischen ihrer Funktion und ihrem Einfluss als Frau des ersten Mannes der Partei bestand, doch später änderte sich das.
Unerbittlich in ihrem eingeschränkten Schwarz-Weiß-Denken, forderte sie bereits 1975 auf einer Pionierleiterkonferenz, die Jugend den Kommunismus zu lehren. Daraus folgerte sie, wehrpolitische Unterweisungen im Unterricht zu erteilen. Während die meisten Eltern die höheren Ansprüche des polytechnischen Bildungssystems unterstützten, kritisierten sie die Schulen, als dieser Schritt eingeführt wurde. Gerade dieser Punkt war Grund für eine oppositionelle Haltung pazifistisch denkender Staatsbürger und blieb bis zum Schluss ein Zankapfel. Sie musste auf diesem Gebiet einen Rückzug anordnen.
Ihre Ehe mit Honecker verlief offensichtlich nicht durchweg glücklich. In den sechziger Jahren wandte sie sich einem bekannten Schauspieler zu, beide hatten ein Kind miteinander, und nur eine Aussprache im Politbüro, wo auf die Einhaltung der Parteidisziplin und -moral bestanden wurde, hinderte sie, sich scheiden zu lassen. Solche Dinge, wie auch die Verhältnisse Erich Honeckers, gehörten in der DDR nicht in die Öffentlichkeit. Niemand sollte etwas davon erfahren, und wer damit bekannt wurde, behielt es für sich. Es mag aber durchaus damit zusammenhängen, dass sie durch die unglücklich verlaufene Ehe und die zunehmende Unnahbarkeit ihres Mannes die Bestätigung in der strengen, oftmals unfraulichen Durchsetzung ihrer Erkenntnisse fand. Als sie der Witz erreichte, die riesige Baugrube des Palastes der Republik sei angelegt worden, weil vermutet würde, jemand hätte dort unten ihr Diplom versteckt, soll sie blass geworden sein.
Zum Schluss gehörte sie immer noch zur Hardliner-Fraktion, war gefürchtet, aber nicht beliebt. Eigentlich hätte das ähnliche Schicksal einer ihrer Vorgängerinnen, der Frau des Staatssicherheitsministers Zaisser, die auch das Ministerium für Volksbildung drangsalierte, Warnung sein sollen, Frauen von Politikern in führende Stellungen zu bringen, ihnen Orden oder Ehrenpromotionen anzutragen.
Als meine Frau Gisela einmal aufgefordert wurde, ein wichtiges Amt zu übernehmen, lehnte sie mit Hinweis auf ihren Beruf und unsere Kinder ab. Einer müsse doch die Familie zusammenhalten, meinte sie.
Am Ende der DDR hielt Margot Honecker zu ihrem Mann, teilte mit ihm die verschiedenen Fluchtquartiere, war aber - wie er - nicht in der Lage, ein Schuldeingeständnis zu äußern. Sie ging einfach in Rente. Bei ihm wie bei ihr war das eigentlich tragische Element, dass sie auf politische Veränderungen nicht vorbereitet waren.
Im Spätsommer 1965 fuhr eine Partei- und Regierungsdelegation nach Moskau, um ein Wirtschaftsabkommen, das eine noch engere Verflechtung der Volkswirtschaft beider Länder vorsah, zu unterzeichnen. Doch es kam nur eine Vereinbarung über technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit zustande. Zum ersten Mal war es geschehen, dass Breshnew, der Generalsekretär der KPdSU, seinen Partner aus der DDR nicht empfing. Ulbricht musste sich mit Podgorny, dem formalen Staatsoberhaupt, abfinden. Das bedeutete, die bisherige Linie musste geändert werden. Das wurde auch klar, als Anfang November Breshnew, der Vertreter des Militärkomplexes in der UdSSR, nach Berlin kam, um im Politbüro seine Linie und seine Forderungen darzulegen. Bereits im August hatte Ulbricht informiert, dass die Aufklärung einen bevorstehenden Rollback-Versuch der Mauer gemeldet hätte. Eine große Koalition von CDU und SPD sei dafür in Bonn in Vorbereitung (sie kam dann ein Jahr später zustande). Es sei also, führte Breshnew aus, nicht Dezentralisierung und ökonomischer Wildwuchs auf unterer und mittlerer Ebene notwendig, sondern stärkere Zentralisierung und Zusammenarbeit auf höchster Ebene unter Ausnutzung der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten der DDR, auch in der Raumfahrtindustrie, das hieß Aufrüstung der Raketensysteme und ihrer Träger. Die DDR wurde zur Rüstungskasse gebeten und musste mitmachen, war sie doch fast vollständig auf die Einfuhr von wichtigen Rohstoffen aus der Sowjetunion abhängig.
Mit dieser Auskunft zog Breshnew wieder gen Moskau, und der sorgfältig gebaute Fünfjahrplan, der am 1. Januar 1966 beginnen sollte, war nur Makulatur. Zwar erhielten Günter Mittag, Sekretär des ZK, und Apel sofort den Auftrag, einen neuen Plan bis zum 11. Plenum am Jahresende vorzulegen, aber das war utopisch. Der Vorsitzende der Plankommission, Apel, erschoss sich in seinem Dienstzimmer, er sah keinen Ausweg mehr. In dieser Situation, die bereits seit September deutlich wurde, nahm Ulbricht einige Vorkommnisse zum Anlass, die Jugendpolitik zu ändern. In Westberlin hatten die Fans der Rolling Stones die Waldbühne demoliert, in Dresden und anderswo die Filmfans des Streifens »Die glorreichen Sieben« eine Freilichtbühne. Dazu kamen einige Schlägereien und ähnliche Vorkommnisse bei Tanzveranstaltungen.
Nun waren die »Gammler« im Visier. Schon immer befürchteten die Oberen, dass von den Beatles und ihren Anhängern eine ideologische Gefahr ausging. Das unfromme Gehabe, die lässige Kleidung, die ungewohnten Töne brachen mit allen Gewohnheiten. Dieser Zug aus dem Westen ergriff mehr oder weniger die Jugend. Waren es anfangs dicke Gummisohlen und Ringelsocken, kamen später die Jeans hinzu, und das yeah, yeah, yeah ärgerte Ulbricht so stark, dass er es krähend mit seiner Fistelstimme nachäffte, um zu zeigen, wie unausstehlich es sei. Als letzter Schrei der Mode waren gerade lange Haare für die Jungen angesagt, passten die denn unter den Stahlhelm? Dieses Zeichen des Protestes, der Entziehung von den braven Modevorschriften des Staatlichen Modeinstituts galt als Beweis für die Auflehnung gegen die Norm, und es wurde demonstriert, dass der Staat solches nicht wünschte. Organisierte junge Männer mit entsprechender Ausbildung griffen die Langhaarigen auf Straßen und Plätzen in verschiedenen Städten und schleppten sie in die Friseurläden.
Im Bezirk Leipzig setzte der 1. Bezirkssekretär der SED, Fröhlich, unter Bruch des Hausfriedens »wütende FDJ« gegen die auf Westempfang installierten Antennen ein, musste aber diese Aktion einstellen, als die ersten Anzeigen bei der Justiz eingingen. Paul Fröhlich war Choleriker und Menschenfeind von Grund auf. Der gelernte Feldkoch hatte auch die Manieren eines Landsknechts, bar jeder Hemmung schrie er verbittert auf Leute ein. Selbst der Oberbürgermeister von Leipzig, Walter Kresse, ein Mann von Charakter, entkam nicht seinen Angriffen, als bekannt wurde, dass ein neues Weinlokal den Namen »Falstaff« erhalten hatte. Auch der Generalintendant des linientreuen Leipziger Theaters, Karl Kayser, Mitglied des ZK der SED, entging wegen eines missliebigen Stückes auf dem Spielplan nicht der öffentlichen Schelte.
Nunmehr wollte Fröhlich mit mir noch eine Rechnung aus dem Vorjahr begleichen. Damals wurde mir von seinem Verantwortlichen in der Kulturverwaltung zur Kenntnis gebracht, dass die Universitätskirche gesprengt werden sollte. Da ich der oberste Denkmalpfleger war, musste sofort gehandelt werden. Ich wies an, er solle sofort an Ort und Stelle gehen und einen Bericht per Fernschreiben durchgeben. Die Vermutung verstärkte sich, Arbeiten eines Sprengkommandos waren nicht zu übersehen. Es war zwar schon Freitagabend, aber ich rief den Innenminister an, der Diensthabende war sein Stellvertreter, General Dickel. Er versprach, sofort einzugreifen, nachdem er festgestellt hatte, dass militärische und polizeiliche Einheiten nicht beteiligt waren. Die Firma für die Sprengung kam vom Bergbau, denn andere verfügten nicht über Sprengmittel. Dickel setzte eine Bereitschaft der Volkspolizei ein, die Kirche wurde geräumt. In der nächsten Politbürositzung am Dienstag wurde als erster Tagesordnungspunkt das Verhalten der Genossen Dickel und Bentzien diskutiert. Ulbricht war bei solchen Anlässen und Konflikten nicht immer anwesend, dafür aber Fröhlich, sein junger Mann in Leipzig, aus seiner Geburtsstadt: Am Karl-Marx-Platz dürfe keine Kirche stehen. Bei der Neubebauung sei sie nicht vorgesehen, also müsse sie weg. Das alles geschah ohne Zustimmung des Stadtparlaments, ohne irgendwelche Öffentlichkeit.
Den Vorsitz in der Politbürositzung führte Honecker. Als Fröhlich das Wort nahm, schrie er auf mich ein, bis ich in eine Lücke der Wortkaskaden hinein sagte: »Wer eine Silbermann-Orgel in die Luft sprengen will, ist ein Verbrecher, genauso wie die Flieger, die Leipzig und Dresden im Krieg zerstört haben, aber damals war Krieg.« Dann wurde ich aufgefordert zu sprechen. Ich legte dar, dass die alte Kirche schon viele Zweckentfremdungen und Angriffe gesehen hätte, sie war Pferdestall unter napoleonischer Besatzung und im zweiten Weltkrieg hätten Leipziger Bürger die Brandbomben erstickt oder vom Dach hinuntergeworfen. Vernichtung wäre das Schicksal vieler Bauten gewesen. Die Universitätskirche aber hatte in der Frühaufklärung, in den Diskursi gegen die Dunkelmänner, die zentrale Rolle gespielt, hier lägen sie begraben, die Kirche sei so etwas wie das Friedrichsfelde der deutschen Frühaufklärung. Da sie staatliche und Universitätskirche sei, wäre ich dafür, dass sie als Aula in die neue Universitätskonzeption einbezogen würde, damit die jungen Doktoren ihren Hut auf den Gräbern der Lehrer Goethes empfingen und wüssten, auf welcher Art Fundament sie stünden.
In der Debatte unterstützte niemand den Barbarenakt, Honecker schloss die Sitzung: »Bentzien und Dickel haben sich richtig verhalten.« Heute ist ein Brief bekannt, den Fröhlich an Honecker geschrieben hat, in dem er meine Haltung, die Kirche zu schonen, angreift, und der auf Informationen des Verantwortlichen für Kultur beruht. Dieser trug die Last auf zwei Schultern. Am Tag danach wurde ich zu Honecker gerufen, er fragte, warum ich so an den alten Denkmälern hinge. Natürlich sei das Verhalten Fröhlichs reine Willkür gewesen, aber er wolle wissen, was man mit den vielen Kirchen machen solle und wie viel die Restaurierung der Universitätskirche vor einiger Zeit gekostet habe. Ich antwortete wahrheitsgemäß, etwas über drei Millionen. Dafür konnte man damals sehr viel unternehmen, das war auch für ihn günstig. Aber die andere Frage? Ich vertrat, wie auch heute, die Meinung, dass diese in der Regel architektonisch wertvollen Gebäude wie immer öffentlichen Zwecken dienen sollten, wenn eine Gemeinde nicht mehr vorhanden ist. Die Welle von Kirchenaustritten, die heute wie damals vor sich geht, hat nichts mit dem Atheismus, sondern mit der mangelnden Akzeptanz einer, wie es scheint, hoffnungslos verknöcherten Institution zu tun. Konzerte, Versammlungen festlicher Art, Stadtparlamente und Bezirkstage, das alles könne sich dort versammeln, oder auch wie im Leipziger Fall, die Studenten.