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Links im Flur führt das Treppenhaus nach oben zum Boden, an das ich vorbeitaste. Ich stehe neben der Flurkommode mit Spiegel und will die Tür zur Stube öffnen, als ich plötzlich hinter mir Schritte im oberen Treppenhaus vernehme. Was für ein Schreck, der mir sofort durch alle Glieder fährt. Mein Herz droht zu explodieren, während die Schritte immer näher kommen. Zum absoluten Horrorerlebnis fehlen nur noch die knarrende Tür, der klassische grelle Frauenschrei und ein James Bond, der mir Paul McCartneys „Live and let die“ ins Ohr flüstert. Ich starre auf die Treppentür, die sich tatsächlich langsam und mit knarrendem Geräusch öffnet. Die nächsten Sekunden könnten über Leben oder Tod entscheiden. Das reicht! Ich will nicht weiter dramatisieren. Es ist nicht Mister Big, Dracula oder Hitchcocks psychopathischer Duschbadkiller, der hinter der Tür zum Vorschein kommt.
Ein schon etwas betagter Mann, dessen Alter ich unmöglich einschätzen kann, schreitet die letzten Stufen zum Flur hinunter und blickt mich freundlich an. Er hat graues, nach hinten gekämmtes Haar. Mir fällt sofort seine hellgraue Strickjacke auf, die er anhat. Ich erinnere mich, dass Mutter ihrem Vater kurz vor seinem Tod eine solche Jacke zum Geburtstag geschenkt und diese dann von Oma zurückerhalten hatte bei Aufteilung der Hinterlassenschaft. Aber nicht Opa steht vor mir. Obwohl ich den Mann nicht kenne, verschwindet meine Angst vor ihm genauso schnell, wie sie gekommen ist. Körper und Geist gewinnen wieder an Lockerheit zurück. Der Mann zeigt keinerlei Überraschung und geht wie selbstverständlich auf mich zu: „Hallo, ich bin Werner. Du musst Achim sein. Ich habe dich erwartet.“
Werner reicht mir zur Begrüßung seine rechte Hand, die ich nur äußerst vorsichtig ergreife. Man weiß ja nie. Ich muss an die vielen Zombie-Filme denken. Wenn man nicht aufpasst, hält man plötzlich den ganzen Arm seines Gegenübers zwischen den Fingern. Werner ist aber ein echter Mensch. Kein Zombie, keine Fata Morgana und kein Geist stehen vor mir. Er hat einen kräftigen Händedruck. Das einzige, was ich rausstammele, ist: „Guten Tag!“ Was soll ich auch sonst auf Werners „Hallo“ antworten: „Auf Wiedersehen“? Ihr lacht. So was passiert aber im Beatlessong „Hello, goodbye“, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge: „Du sagst Goodbye, und ich sag Hallo.“
Ich sehe Werner an und versuche, ebenfalls ein entspanntes Gesicht zu machen. Ich lächele sogar zurück. Sozusagen als vertrauensbildende Maßnahme. Natürlich frage ich mich, was für ein Werner er wohl sein mag, der mich sachte zur Stubentür schiebt. Ich wehre mich nicht und lasse mich einfach führen. Werner öffnet die Tür und geleitet mich in die Stube. Für einen kurzen Augenblick verharre ich und blicke mich um. Auch hier drin sieht es aus wie vor vierzig Jahren: auf der Fensterseite das Fernseher/Radio-Regal, daneben ein kleiner Blumentisch. An der gegenüberliegenden Innenwand steht die grüne Couch, darüber der Wandbehang, auf dem ein Bauerngehöft in einer Gebirgslandschaft abgebildet ist. Die linke Couchseite schließt an einen gelben Kachelofen an, der genau in der hinteren Zimmerecke steht. Nicht zu vergessen der große ausziehbare Couchtisch. Irgendwie berührt mich das ganze. Die Stube sieht aus, als ob im nächsten Augenblick Oma oder Opa hereingeschneit kommen.
Werner setzt sich auf den Sessel in der rechten Zimmerecke – zwischen der Tür zum Schlafzimmer und dem Kachelofen. Über dem Sessel hängt der obligatorische Kirchenkalender mit den damals für mich als Kind langweiligen Bibelsprüchen. Ich kann aber keine Jahreszahl erkennen. Das muss nicht Absicht sein, sondern kann einfach daran liegen, dass ich keine Brille aufhabe. Früher war der Sessel Opas Stammplatz. Werner bittet mich, mich auf die Couch zu setzen, vor mir der Tisch, an dessen linkem Ende ein zweiter Sessel steht. Über diesem Sessel hängen zwei Fotos an der Wand. Das eine zeigt die ostpreußische Landschaft, in der sich früher das Pehlke-Grundstück befand. Das Foto hatten meine Eltern bei ihrer ersten Trabitour durch Polen geschossen. Ein gleiches Foto hing auch die ganze Zeit im Grevesmühlener Forsthaus. Zwischen den beiden Fotos über dem Sessel ist ein etwa 30 cm großes hölzernes Kreuz angebracht, zum Glück ohne den angenagelten Jesus. Als Kinder hätte uns ein solches Kreuz bestimmt Angst eingejagt. Heute halte ich das Jesuskreuz passend für ein Sinnbild menschlicher Unvernunft. Ein Mahner gegen Krieg und Wohlstandsgier muss heute noch mit dem Schlimmsten rechnen, erst recht, wenn er Reichtum angesichts der Armut in Frage stellt. John Lennon argwöhnte in seinem Lied „The ballad of John and Yoko“: „Christ, du weißt, es ist nicht einfach. Du weißt, wie hart es sein kann. So wie die Dinge laufen, kommen sie, um mich zu kreuzigen.“
Werner lässt mir ein wenig Zeit, mich in der Stube umzusehen. Dann beendet er die Ruhe mit der überraschenden Frage „Hast du Gabi schon angerufen?“ Verdammt, ich hatte es vergessen. Woher weiß der Typ überhaupt, wer Gabi ist und dass ich sie anrufen will? Mir fallen sofort George Orwell und der amerikanische NSA als Warnung vor Totalüberwachung ein. Der Verweis auf die Stasi der DDR hat mich noch nie wirklich beruhigt. Werner als paranoiden Schnüffler halte ich aber nach einigem Überlegen doch für eine überzogene Vorstellung. Vertrauen wagen, heißt deshalb mein Motto. Es gibt ein Buch „Vertrauen wagen – Das bedingungslose Ja zum Leben wie es ist“ von David Richo. Amazon preist das Werk mit dem Interneteintrag: Jetzt kaufen. Ich muss versuchen, hier auch ohne David Richo klar zu kommen.
Ohne meine Antwort abzuwarten, fährt Werner unser bisher wortkarges Gespräch fort: „Wir müssen reden. Und das kann sich hinziehen. Ich hoffe, du hast Zeit mitgebracht. Wenn du willst, kannst du heute sogar in der Schlafstube übernachten.“ Das geht mir aber alles ein bisschen schnell jetzt. Ich bin doch kein Mann für eine Nacht, denke ich. Unfug! Natürlich müssen wir reden. Bloß worüber müssen wir reden? Als ob Werner meine Gedanken lesen kann, antwortet er: „Wir werden über die Pehlkes reden, über dich, über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ Na klar, über was sonst. Ich sehe Werner an und spüre, dass der Kerl es ernst meint. Er verspricht mir: „Du wirst heute Antworten finden auf Fragen, die dein Leben bestimmen.“ Das ist doch mal eine Ansage! So richtig weiß ich immer noch nicht, was ich von diesem Werner halten soll. So frage ich ihn erst einmal: „Wer bist du?“ Ich verfalle wie er sofort in das Du. Ob das ein Fehler ist, wird sich bestimmt schnell erweisen. In meinem Gehirn rattert gleichzeitig die Information runter: „Who are you“ ist der Titelsong des gleichnamigen Who-Albums aus dem Jahre 1978, letztmalig mit Keith Moon als Schlagzeuger. Pete Townshend wurde durch eine nächtliche Begegnung mit einem Polizisten in Soho zum Text inspiriert.
„Ich habe dir bereits meinen Namen genannt: Werner! Sieh mich als einen Menschen aus einer fremden Welt an, der dich unbedingt sprechen muss. Vielleicht noch so viel: Ich kenne dich, seit du geboren bist. Du bist Gerdas zweiter Sohn, ein Enkel von Bruno und Charlotte Pehlke. Du kannst mir vertrauen und brauchst nichts zu befürchten.“ Obwohl ich jetzt nicht viel mehr über Werner weiß, als vor meiner Frage, beruhigt mich seine Antwort. Der Verweis auf Mutter und meine Großeltern verschafft ihm bei mir jetzt den vollen Vertrauensbonus, obwohl ich das echt seltsam finde, dass er mich seit meiner Geburt kennen will. Vielleicht doch ein Schnüffler oder Spanner? Ich sollte jetzt aber wirklich Gabi anrufen. Es ist bereits 16.35 Uhr.
Ich gehe zurück auf den Flur und schließe die Tür zur Stube. Da Werner mich zu kennen meint, dürfte er wissen, dass Intimsphäre noch eine gewisse Bedeutung für mich hat. Ich wähle auf dem Handy Gabis Nummer. „Wähle 3-3-3 und dann glaube mir, ich bin 1-2-3 schon bei dir.“ Ihr könnt vergessen, dass Graham Bonney seine richtige Nummer besungen hat. Gabis Nummer erfahrt ihr von mir auch nicht. Nach einem kurzen Tut ist sie gleich am Hörer. Seit Stunden wartet sie auf meinen Anruf. Ich erzähle ihr, dass ich im Haus meiner Großeltern einem älteren Mann gegenüber sitze, der sich mit mir unbedingt unterhalten will. Und das kann bis morgen dauern. „Du musst dir keine Sorgen machen“, versuche ich Gabi zu beruhigen. Sie ist aber gar nicht beunruhigt, will einfach nur wissen, ob ich überhaupt etwas zum Essen da habe. Frauen! Gabi! Essen ist nun wirklich nicht das Problem, das mich zurzeit am meisten beschäftigt. Ich bin mir aber sicher, hier nicht zu verhungern, weshalb ich nur antworte: „Alles paletti!“ Nachdem ich das Telefonat mit Gabi beendet habe, bewege ich mich zurück in die Stube.
Werner sitzt immer noch auf Opas Sessel mit dem gleichen Lächeln wie zu Beginn unseres Zusammentreffens. Bei seinem Anblick würde sicher auch Barry Manilow sein Lächeln zurückfinden, der mit „Can’t smile without you“ Tausende Frauenherzen zum Schmelzen brachte. Die Stube hat sich inzwischen aber auf wunderbare Weise verändert. Auf dem Tisch duftet ein Kaninchenbraten mit Kartoffeln, Soße und Rotkohl. Es liegt aber nur ein Besteck bereit. Ich werde den Verdacht nicht los, dass Werner Gabis Sorgen um mein körperliches Wohlsein mitgehört hat, behalte den Verdacht aber für mich. Obwohl ich erst gegen Mittag gut gefrühstückt habe, beginnt mein Bauch so unverschämt zu knurren, als ob er seit Ewigkeiten unter Essenmangel leidet. Werner, dem das Knurren nicht entgangen sein dürfte, ermutigt mich: „Du wirst Hunger haben. Iss ruhig! Es wird dir schmecken.“ „Was ist mit dir? Hast du keinen Hunger?“, frage ich zurück. Ein einfaches „Nein“ kommt zur Antwort. Ich überlege nicht lange, fülle meinen Teller und lass es mir gut gehen. Schon lange habe ich keinen Kaninchenbraten mehr gegessen. Gabi und die Kinder stehen nicht auf tote Kaninchen. Essen schon gar nicht. Den letzten Kaninchenbraten dürfte ich bei meinen Großeltern verschlungen haben. Bestimmt bei ihrer goldenen Hochzeit. Werners Braten schmeckt, wie ich es von meiner Oma kenne. Das Fleisch zerrinnt mir zwischen den Zähnen, so zart ist es. Wer hat bloß das Essen zubereitet? Werner macht nicht den Eindruck eines Spitzenkochs. Ob wir beide hier nicht allein sind?
Werner steht auf und greift in die Schrankvitrine, die links neben der Tür zum Schlafzimmer steht. Zum Vorschein kommt eine Flasche gefüllt mit dunkelrotem Saft. Verschmitzt schaut er mich an und füllt mit dem Flascheninhalt ein vor mir auf dem Tisch stehendes Weinglas: „Ich glaube, dieses Getränk passt sehr gut zum Braten.“ Voller Spannung wartet er meine Reaktion ab. Schon mit etwas weniger Vorsicht nippe ich jetzt an dem Glas. Sofort aktivieren meine Geschmacksnerven meine Glückshormone: Das ist Johannisbeerwein, wie ihn meine Großeltern und Eltern immer selber hergestellt haben. Nach diesem vollfruchtigen, süßen, schweren Gesöff war ich absolut süchtig. Ich konnte nie eine angebrochene Flasche einfach so stehen lassen, musste sie immer bis zur Neige trinken. Oma hatte ihre letzte Flasche Johannisbeerwein aus Fulgenkoppel zusammen mit mir getrunken, als Gabi und ich sie in ihrer Doberaner Wohnung besuchten. Nachdem Mutter sie aufgrund ihrer Krankheit in unser Försterhaus nach Grevesmühlen holte, half mir Oma abends beim Leeren der Flaschen Wein, den meine Eltern nach der Großeltern-Rezeptur zu Hause anfertigten. Und das ist auch schon fast 30 Jahre her. Mein Vater hatte nach Mutters Tod noch einmal versucht, diesen Wein so hinzubekommen. Er schaffte es aber nicht: Der Wein war verdorben. Ich hatte mich damit schon abgefunden, nie wieder den selbstgemachten Johannisbeerwein meiner Großeltern zu genießen. Der Fruchtwein, den es in den Discountern oder von privaten Weinhändlern zu kaufen gibt, kann sich nicht ein bisschen mit dem Wein meiner Großeltern messen. Jetzt steht er aber vor mir auf dem Tisch. Und ich darf ihn trinken. Werner freut sich, mit welchem Hochgenuss ich mich an seinem Wein zu schaffen mache. Ich muss an den „Red red wine“ von UB40 denken: „Roter Wein steigt mir zu Kopf, lässt mich vergessen, wie sehr ich sie brauche.“ Für mich kann ich sagen: Ich habe nie Wein getrunken, um meine Leiden zu betäuben. Ich bin einfach nur ein Genießer.
Ich frage Werner, ob wir allein im Haus sind. Und er antwortet: „Du bist zu keiner Zeit allein, auch dann nicht, wenn niemand zu sehen ist.“ Ich schaue ihn an und wundere mich schon gar nicht mehr über diese Antwort. Wie zur Bestätigung, dass wir auch jetzt tatsächlich nicht allein sind, verschwinden plötzlich vom Tisch Geschirr und Essenreste lautlos ins Nichts – fast wie im Grimmschen Märchen „Tischlein deck dich“. Und ich fühle mich herrlich satt. Ein gesättigter Bauch schafft mehr Vertrauen zum Gastgeber als tausend Worte. Nein, das ist kein Zitat, sondern ein spontaner Gedanke meiner selbst.