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Bei Christoph in der Schule, bei Anja im Kindergarten, bei Mutter in der Klinik, überall war Anfang September, wie man so sagt, alles in Butter. Zumindest erschien es Christoph oder Anja beziehungsweise Mutter so, und erst allmählich erfassten sie, in was sie da geraten waren.
Mutter hatte seit dreieinhalb Jahren, seit Anjas Geburt also, nicht mehr gearbeitet. Genauer: Sie war, wie es heißt, nicht berufstätig gewesen; denn geschrubbt und geschuftet, daheim - das hatte sie natürlich und nicht zu knapp.
Nun war Anja endlich im Kindergartenalter; nun hatte sie einen Kindergartenplatz, nun konnte Mutter endlich wieder als Krankenschwester arbeiten.
Sie liebte ihren Beruf und wollte außerdem, wie sie es nannte, ökonomisch selbstständig sein. Damit meinte sie das Geld, das sie für die Familienkasse hinzuverdienen würde. Meist kam sie darauf zu sprechen, wenn von einem neuen Auto oder anderen Anschaffungen die Rede war.
Tu, was du für richtig hältst, hatte Vater einmal gesagt. Hauptsache, du klappst nicht zusammen, weils zu viel für dich wird!
Ach was!, so Mutter damals. Ich packs schon; ich bin doch nicht aus Pappe!
Nein, aus Pappe war Mutter bestimmt nicht. Ihre Hände konnten bereits früh am Morgen, wenn die Weckstunde geschlagen hatte, fest und, falls nötig, unerbittlich zupacken, und ihre Hände mussten noch spät am Abend, wenn längst Zeit zum Schlafen war, zugreifen, einfädeln, glatt streichen und zu alledem ein wenig streicheln. Seit Anfang September fuhr Mutter, wie Vater sagen würde, zwei Schichten: die eine auf Arbeit, die andere daheim.
Und kein Vater da, der hätte helfen können.
Und bald Schwierigkeiten mit Anja, Probleme mit Christoph, Ärger in der Klinik ...
Doch der Reihe nach und ein weiteres Mal zurück zum ersten September!
Dieser Tag ging zu Ende, wie er angefangen hatte: rosig im wortwörtlichen und im übertragenen Sinn. Die Sonne schien, und der Dunst über der Stadt war ausnahmsweise spinnwebenzart. Am späten Nachmittag färbte sich der Himmel hinter den Hochhäusern rosa - mit einem Stich Gelb.
Christoph hatte bis gegen eins Unterricht gehabt. Seitdem - und schon vorher - brannte er darauf, von seinem ersten Schultag, dem ersten in der neuen Klasse, zu erzählen. An wen aber sollte er sich wenden?
Die Jungen und Mädchen, mit denen Christoph seit heute in der 6b saß, schieden aus; denn die waren ja selber dabei gewesen, und wer erzählt schon Neuigkeiten sozusagen einem Ohren- und Augenzeugen?
Nein, von denen kam niemand infrage, doch andere Bekannte hier im Neubauviertel hatte Christoph noch nicht. Außerdem waren für seinen Bericht wahrscheinlich Freunde - nicht bloß Bekannte - als Zuhörer nötig.
Heiko und Ulf fielen Christoph ein. Er hatte heute schon oft an sie gedacht, sich schon ein paarmal gesagt: Das müssten Heiko und Ulf hören, so müssten sie dich jetzt sehn!
Besonders bei seinem Auftritt in der ersten Stunde, noch vor dem eigentlichen Unterricht, hatte er die beiden vermisst. Da war er in Hochform gewesen, der Star der Klasse; zu solchem Glanz hatte es an der alten Schule, ehrlich gesagt, bei ihm nie gereicht.
Schmidt, Christoph, las Frau Winkler, die Klassenleiterin, als sie bei der Vorstellung, dem Alphabet nach, zum vorletzten Namen gekommen war. Sie blickte auf dabei, anders als bei den zweiundzwanzig Schülerinnen und Schülern zuvor und anders auch als dann bei Weymann, Sven, dem Letzten im Klassenbuch.
Christoph erhob sich. Er stand nicht etwa auf, und schon gar nicht schnellte er in die Höhe; dem, was er tat, entsprach am ehesten die Bezeichnung sich erheben.
Hier, sagte er. Es hörte sich kehlig an, denn Christoph war aufgeregt. Und wie er innerlich zitterte! Nach außen hin aber erschien er völlig beherrscht.
Du bist also der Neue, stellte Frau Winkler fest. Sie lächelte dabei, und die letzten der dreiundzwanzig Mädchen und Jungen drehten den Kopf, sahen her.
Christoph stand da in einer Haltung, die sich schwerlich beschreiben ließ, die man eben gesehen haben muss. Lässig - das trafs ungefähr, wobei man allerdings Lässigkeit nicht mit Rumhängerei verwechseln durfte. Die Haltung von Christoph war, wie Vater sagen würde, einwandfrei.
Und erst seine Erwiderung! Der bin ich, sagte er auf die Feststellung von Frau Winkler, er sei also der Neue. Die Stimme - wiederum kehlig, heiser fast, in tiefstmöglichem Brustton.
Gleich guckten ein paar Mädchen interessierter, und die Fältchen an den Augenwinkeln von Frau Winkler vertieften sich. Nun, Christoph, du wirst dich - davon bin ich überzeugt - rasch bei uns einleben. Wir sind ja alle erst seit maximal einem Jahr an dieser Schule und trotzdem schon ein fest gefügtes Kollektiv. Oder nicht?
Die Bestätigung an den Tischreihen kam zögernd, maulfaul vielleicht.
Ein Mädchen, schmächtig und scheu, senkte den Blick.
Christoph versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern. - Hieß sie nicht Claudia? Und nun, bat ihn Frau Winkler, erzähl noch kurz was von dir! Wo arbeiten deine Eltern?
Mutter im Krankenhaus, Vater in Stschastliwoje, sagte Christoph. Eine Antwort: kurz, wie gewünscht, und ohne alle Mache. Trotzdem diese Wirkung!
Wo, bitte? Frau Winklerschlug rasch im Klassenbuch nach und schaute, die Stirn gerunzelt, wieder zu Christoph. Auch die anderen musterten ihn, besonders neugierig - so schien es - jene Claudia.
In Stschastliwoje, wiederholte Christoph. Das ist südlich von Moskau. Trasse, Erdgaspipeline.
Ach! Interessant! Darüber musst du unbedingt bald einmal genauer berichten. Frau Winkler wandte sich an die anderen. Was meint ihr, merken wir uns das für einen der nächsten Gruppennachmittage vor: Christoph erzählt uns Geschichten, die sein Vater an der Trasse erlebt hat?